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Treue in Zeiten Der Pest

Treue in Zeiten Der Pest

Titel: Treue in Zeiten Der Pest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
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lassen.
    Henri konnte damit nicht umgehen. Sein ganzes Wesen war darauf gerichtet, Gefahren zu erkennen und abzuwehren. Das war es, was er gelernt hatte.
    An diesem Morgen lenkte er seine Schritte in die Kathedrale, weil er spürte, dass er Zuspruch brauchte und Kraft, um seinen Gefährten ein Vorbild zu sein.
    Da die Stadttore geschlossen und der Hafen versperrt war, die Märkte verödeten und der Handel zwangsweise zum Erliegen kam – es gab keine Handelsware mehr –, blieb den Menschen in Quimper nur noch die Messe, um sich von ihrem Elend abzulenken. Die Kathedrale war jeden Tag bis auf den letzten Platz gefüllt.
    Die Menschen schienen sich allerdings immer noch nicht mit der Seuche abgefunden zu haben. Sie empfanden es als ungerecht, dass gerade sie davon betroffen waren. Jeder Gesunde glaubte weiterhin, dass er selbst verschont bliebe und nur die Familie im Nachbarhaus getroffen würde. So redeten sie sich ein, die Seuche sei nur ein vorübergehendes Ereignis, das bald wieder verschwinden würde. Niemand konnte es ertragen, sich vorzustellen, dass sein bisheriges Leben von der Pest vollständig ausgelöscht werden könnte.
    Henri neigte den Kopf, der noch immer von der Pestmaske bedeckt war. Wenn er eine Kirche betrat, ergriff ihn sofort ein Zauber. Er spürte die Gegenwart Gottes, selbst jetzt, wo die Lage in der Stadt die meisten Menschen viel eher vermuten ließ, dass Gott sie verlassen hatte. In Saint-Corentin war der Herr jedoch über allem. Und der Priester Rohan besaß die Gabe, dies allen mitzuteilen.
    Und das war nicht leicht. Denn die Einwohner von Quimper legten in diesen Tagen eine beispiellose Gleichgültigkeit an den Tag. So nahmen sie zwar an der Betwoche teil und stimmten in den Wechselgesang der Gemeinde ein, doch mit dem Herzen waren sie nicht mehr dabei.
    Henri betete leise. Die Gesänge aus dem Chorraum wurden lauter, dann ebbten sie wieder ab. Henri fand seinen eigenen Text. Herr, sage ihnen, dass sie nicht ohne Schuld sind. Aber sage ihnen auch, dass du sie nicht verlassen wirst. Erinnere sie an die Heilsgeschichte. Wir sind durch dich erwählt, wir stehen mit dir im Bunde, wir erleben deine Gegenwart, du bist unsere Hoffnung, lass uns den Glauben nicht verlieren.
    Jetzt betrat der Priester die Kanzel. Josselin Rohan, der seinen Namen von alten Heiligen herleitete, war ein kräftiger, aber eher kleiner Mann mit dichten, blonden Haaren. Mit seiner mächtigen Gestalt wirkte er eher wie ein Ritter als wie ein Geistlicher. Und als er zu predigen begann, sprang endlich ein Funke auf die versammelte Gemeinde über.
    Josselin Rohan sprach von Schuld, Sühne und Verantwortung. Von der Pest, die schon in der Bibel als Geißel Gottes bezeichnet worden war, zu strafen die Hoffärtigen und die Verblendeten. Von der Geschichte, die keine Abfolge des Immergleichen sei, sondern zielstrebig auf die Erlösung am Tag des Jüngsten Gerichts zuging. Davon, dass die einzige Kontinuität im Leben der Bund mit Gott bliebe.
    Henri konnte diesen Worten nur zustimmen, der Priester hatte den richtigen Ton getroffen. Und die Gläubigen fühlten sich ebenfalls angesprochen. Ihr Beten wurde inbrünstiger, und es drang nun selbst von draußen herein. Zahlreiche Menschen – die meisten vermummt – standen dort auf dem Vorplatz, obwohl es inzwischen zu regnen begonnen hatte.
    Zusammen mit den Gebeten wehte durch die geöffneten Kirchentore ein Geruch von Mandelblüten herein. Einige der Anwesenden rührte dieser vertraute Duft zu Tränen.
    Für einen Moment wurde es in der Kathedrale totenstill. Henri musste an Sean denken und an die Freunde. Es gab sicher einen Ausweg für sie wie für andere. Sie würden noch einmal ganz von vorn anfangen können, sie durften nur nicht aufgeben.
    Einen Herzschlag lang war in dem großen Kirchenraum, in dessen Höhe immer noch Bauarbeiten im Gange waren, nur das Plätschern des Regens von draußen zu hören. Eine seltsame, feierliche Stimmung breitete sich aus. Henri glaubte Flügelschläge zu vernehmen, die sich langsam durch den Raum bewegten. Ja, dachte er dann, es gibt den Trost und die Gegenwart Gottes. Bei allem, was uns widerfährt, gibt es Hoffnung.
     
     
    Ich bin frei, dachte Sean. Meine Liebste ist von mir gegangen, aber gerade deshalb bin ich nun frei zu handeln, wie es mir gefällt. Ich kann Angélique folgen, und wir können auf ewig zusammen sein.
    Sean erhob sich vom Bett seiner Geliebten und ging im Zimmer umher. Dann stellte er sich zwischen die Fenster, deren

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