Treue in Zeiten Der Pest
gesehen haben.«
»Sie werden uns nicht erkennen«, beruhigte Uthman den Freund. »Unter der Pestmaske sehen alle gleich aus, jeden Tag verstecken sich mehr Einheimische darunter.«
Als sie in die Nähe des Rathauses kamen, begegneten sie einem Mann, der auf der Stelle trat. Als sie an ihm vorbeigingen, sahen sie, dass sein Gesicht rot leuchtete, als habe man ihm die Haut abgezogen. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen bebten.
»Wenn nicht bald etwas geschieht«, sagte Joshua, »drehen noch alle durch.«
»Ich als Erster«, sagte Sean, der bei dem Anblick des Mannes erzittert war.
»Wir sollten tatsächlich verschwinden«, sagte Uthman. »Wir können die Stadttore gewaltsam öffnen, es würde uns gewiss gelingen. Wir sind schon aus ganz anderen Gefängnissen geflohen.«
»Es ist völlig widersinnig, die Menschen in den Mauern einzusperren«, sagte Joshua. »Wer diese Anordnung verfasst hat, kann nicht bei Verstand gewesen sein. Ich verstehe nicht, was man sich dabei gedacht hat.«
»Ein Ersuchen unsererseits bei der Stadtverwaltung hat sicher keinen Sinn«, überlegte Henri. »Aber vielleicht kann Medicus Monacis vorstellig werden. Das Argument eines vernünftigen Arztes wird in diesem Zusammenhang sicher einiges bewirken können.«
Als die Gefährten den Rathausplatz erreichten, schlug ihnen eine laue Brise vom Meer her ins Gesicht. Henri und seine Freunde nahmen ihre Pestmasken ab und atmeten die frische, leicht salzige Luft tief ein. Uthman hat Recht, dachte Henri, wir müssen unbedingt die Tore öffnen. In dieser Stadt zu bleiben ist Wahnsinn. Es käme einem schändlichen Selbstmord gleich.
Er dachte dies, obwohl er nicht wusste, wie es draußen aussah. Es drang ebenso wenig Kunde nach Quimper herein wie hinausging. Manchmal erschien Henri die Stadt wie eine einsame Insel in einem endlosen Ozean. Uthman dachte Ähnliches, nur dass er sich eine Oase vorstellte, die in der menschenleeren Wüste lag.
Alles in allem war die Stadt für jeden, der sich darin befand, zu einem großen Gefängnis geworden. Es war eine abgeschlossene, kleine Welt, über der sich mit jedem neuen Sommertag eine weitere Hitzeglocke wölbte. Und es stand zu befürchten, dass die Pest darunter noch mehr aufblühen würde.
Sean stöhnte plötzlich auf. Er konnte die wirren Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, nicht mehr ertragen. Er blieb einfach stehen und begann zu zittern. Er war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Die Gefährten, die nicht wussten, was mit dem Jungen geschah, wurden blass. Erschrocken warteten sie darauf, dass er sich wieder beruhigte.
»Warum öffnen wir die Tore nicht gleich?«, fragte Uthman. »Worauf sollen wir jetzt noch Rücksicht nehmen, wo niemanden von uns hier noch etwas hält?«
»Du hast Recht«, erwiderte Henri. »Wenn wir warten, bringt uns zwar jeder Tag dem Ende der Seuche näher, aber niemand weiß, ob wir diese Prüfung heil überstehen. Deshalb sollten wir handeln. Wir sind jetzt frei, es zu tun.«
»Sean, was denkst du?«
Der Knappe blickte Henri an. »Lasst mir noch einen Tag, um am Grab von Angélique Abschied zu nehmen«, bat er. »Dann bin ich zu allem bereit.«
Die Gefährten stimmten diesem Wunsch zu und setzten ihren Weg fort. Dann blieb Henri plötzlich stehen und sagte: »Ich gehe zurück zum Medicus. Ich werde ihn bitten, doch noch einmal bei der Präfektur vorstellig zu werden. Vielleicht haben die hohen Herren ein Einsehen und lassen die Tore ohne Gewaltanwendung öffnen.«
»Wenn das gelingt«, sagte Uthman, »dann wird man uns in der Stadt auch nicht mehr verfolgen, die Menschen werden nur noch erleichtert und dankbar sein.«
»Versuch es, Henri!«, sagte Joshua. »Es wäre die beste Lösung.«
Henri verließ die Freunde, die ihren Weg zum Rathaus fortsetzten. Während er es eilig hatte, schlenderten die Gefährten betont langsam weiter. Als sie am Rathausplatz ankamen, hörten sie eine Weile den Rufen der Menschen zu, die mal vereinzelt, dann wieder gemeinsam Parolen zum Rathaus hinaufriefen. Doch oben an den Fenstern zeigte sich niemand, und unten waren die Eingänge verrammelt und wurden von Soldaten bewacht.
»Wenn wir an der Pest sterben«, rief eine Frau, »wer benachrichtigt dann unsere Verwandten außerhalb der Stadt? Sollen sie es etwa nie erfahren? Ihr macht es euch ziemlich einfach, ihr da oben! Seid ihr auf der Seite der Seuche?«
Einige Menschen auf dem Platz waren von den letzten Wochen so erschöpft, dass sie denen, die noch zum Schreien in
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