Treue in Zeiten Der Pest
ausgeliefert. Sie soll ein schönes Begräbnis bekommen. Priester Rohan persönlich soll dafür verantwortlich sein.«
»Versprichst du mir das?«
»Aber ja, Sean. Wir holen sie am Abend. Und wir begraben sie auf dem Friedhof. Dort wird sie in Frieden ruhen.«
»Sie ist tot. Es ist so furchtbar.«
»So, wie es in der Stadt aussieht, haben es die Toten besser als die Lebenden, mein Sohn. Jetzt lass uns gehen und darauf hoffen, dass bald wieder bessere Zeiten kommen werden.«
»Glaubst du daran, Joshua?«
»Wie sollte ich all das Elend dieser Tage sonst ertragen können? Wir können nicht ohne Hoffnung sein. Wenn wir uns selbst aufgeben, gibt auch Gott uns auf.«
Sean erhob sich seufzend. »Du hast sicher Recht. Gehen wir. Auch ich habe mich schon zu lange mit dem Tod beschäftigt.«
Henri überlegte, wie er die Bewohner von Quimper davon überzeugen konnte, etwas gegen die Pest zu unternehmen. Sie selbst mussten das Heft in die Hand nehmen, sie durften nicht allein auf Anweisungen von oben warten.
Sie mussten sich regelmäßig waschen, die Häuser lüften und vorbeugende Medikamente von seriösen Ärzten erhalten. Vielleicht sollten Joshua und Uthman solche Heilmittel herstellen. Sie waren die Einzigen, die zurzeit mehr konnten, als zur Ader zu lassen. Auf dem Gebiet der Heilkunde kannte sich niemand besser aus als sie.
Wohin Henri nach der Messe und dem Gebet auch ging, überall wütete die Pest. Sie wucherte in den Körpern der Menschen und auch in ihren Köpfen. Außerhalb der Kirche verließen die Menschen Mut und Hoffnung rasch wieder. Sie schienen nicht mehr genügend Kraft zu haben, um sich zu wehren.
Vielleicht würde es bald nicht mehr genug Lebende geben, um die Toten zu begraben, dachte Henri. Dann wird auch der Letzte wissen, dass kein Entrinnen mehr möglich ist.
In der Ferne sah Henri eine Prozession von Mönchen des Benediktinerklosters. Auch sie hatten also ihre strenge Klausur verlassen und wollten den Menschen ihren Trost bringen. So werden wir vielleicht doch noch eine richtige Gemeinschaft, dachte Henri.
Und mit diesem tröstlichen Gedanken machte er sich auf den Weg, um die Gefährten wieder zu vereinen. Was auch immer geschah, dachte er, von nun an durften sie sich nicht mehr trennen.
15
Ende Mai 1318. Die Tore zur Hölle
Plötzlich hielt der Sommer Einzug in die Stadt. Der Regen versiegte, die letzten Pfützen verdampften in den Gassen, und die Luft erwärmte sich mehr und mehr. Quimpers Einwohner kamen wieder aus ihren Häusern heraus, erst misstrauisch und unsicher, dann entschlossener. Und nach langer Zeit rief die Sonne wieder das eine oder andere Lächeln auf ihren Gesichtern hervor.
Endlich begann sich in den Gemütern der Menschen wieder etwas zu regen. Sie konnten das Eingesperrtsein nicht länger ertragen, sie wollten die geschlossenen Stadttore nicht länger hinnehmen. Immer mehr Einwohner versammelten sich vor dem Rathaus. Und als die Sonne über den Zinnen und Türmen der Stadt am höchsten stand, schrien sie zu den Fenstern des Stadthauptmanns hinauf:
»Öffnet endlich die Tore, damit wir wieder hinauskönnen! Hier drinnen verrecken wir alle! Die Seuche wütet nicht auf dem Land, sondern hier drinnen! Öffnet die Tore, oder wir tun es selbst!«
Die Gefährten hörten den Protest. Er erschien ihnen an diesem Mittag lauter als je zuvor.
Die Freunde kamen gerade von Angéliques Beerdigung. Das Mädchen hatte, soweit es unter den gegebenen Umständen möglich gewesen war, eine würdige, kurze Feier erhalten. Etliche Einheimische, die die Familie Maxim gut gekannt hatten, waren gekommen. Und Priester Rohan hatte eine Ansprache gehalten, in der er trotz des alltäglich gewordenen Todes immer noch echtes Mitgefühl auszudrücken verstand.
Sean hatte die Prozedur halbwegs gefasst ertragen. Erst später, als das helle Lachen einer jungen Frau aus einem Haus zu hören gewesen war, hatte er sich schluchzend an Henris Schulter geworfen. Mittlerweile hatte er sich allerdings wieder beruhigt.
»Wir können jetzt gehen«, sagte Sean. Die Gefährten hörten es mit Erleichterung. Sie hatten es ihm überlassen, diesen Gedanken laut auszusprechen. »Sobald die Stadttore wieder geöffnet werden, reiten wir fort. Möglichst weit fort.«
»Hören wir uns an, was die Menge fordert«, sagte Henri.
»Ich weiß nicht«, wandte Joshua ein. »Ich habe von Versammlungen auf öffentlichen Plätzen eigentlich genug. Die Stimmung schlägt zu schnell um, wie wir
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