Treue in Zeiten Der Pest
beobachtete, wie die Heiler zu einer zeremoniellen Heilung übergingen, indem sie zwei Frauen zur Ader ließen. Sie ritzten ihnen die Venen am Handgelenk auf und ließen das Blut in die Mitte des Rings tropfen, den die anderen um sie gebildet hatten. Danach nahmen sie ein Kraut, das wie Minze roch, legten es auf die Ritzwunden, die daraufhin sofort aufhörten zu bluten. Ein anderes, bräunliches Kraut, das wie Ginster aussah, steckten sie an und fächelten den Rauch in die Gesichter der Menschen.
Zum Schluss schütteten die Heiler etwas Silbernes aus dünnen Röhrchen in das Fischmehl, das sie um den Kreis der Anwesenden gestreut hatten. Henri wollte seinen Augen nicht trauen. Dies war Quecksilber! Joshua hatte es ihm einmal gezeigt. Es war giftig, ja, es konnte sogar tödlich sein.
Joshua verachtete dieses Metall, weil es Lähmungen, Zittern und geistigen Verfall hervorrufen konnte. Henri war sprachlos, als sich die kleinen Perlen unter dem Gesang der Heiler plötzlich in Bewegung setzten. Ganz langsam rollten sie über die ausgestreute Fischmehlspur um die Anwesenden herum, bis sie sie ganz umrundet hatten, dann versickerten sie.
Nach einer Stunde waren die dreißig Menschen im Oval so ermattet, dass sie sich nicht mehr aufrecht halten konnten und auf dem nackten Boden zusammensanken. Alle schwitzten und keuchten. Einige schliefen sofort dort ein, wo sie hingesunken waren.
Auch Henri war plötzlich sehr müde geworden, immer wieder rieb er sich die Schläfen, die Augen und die Stirn. Dann überkam ihn ein leichter Schwindel. Ihm war, als liefen kleine Quecksilberkügelchen durch Arme, Beine, Venen und Nerven.
»Sie sollen aufhören«, sagte Henri Priziac.
»Nein, der Prozess der Immunisierung kommt doch gerade in Gang«, erwiderte der Magister barsch. »Seht Ihr das nicht?«
»Es sind nicht die richtigen Mittel, Magister Priziac!«, sagte Henri bestimmt. »Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr auf solche Scharlatanerien vertraut. An Angéliques Lager machtet Ihr einen ganz anderen Eindruck auf mich.«
»Es hat sich gezeigt, dass alle anderen Heilungsmethoden nutzlos sind.«
»Aber deshalb kann man die Bedrohten doch nicht irgendwelchen Experimenten aussetzen!«
»Das sind keine Experimente, glaubt mir. Schon morgen werdet Ihr vielleicht hören, dass dieses Haus das einzige in Quimper ist, zu dem die Seuche keinen Zutritt gefunden hat. Wartet ab!«
»Gebe Gott, dass die Seuche uns alle verschont!«
Henri wollte dieser verrückten Zeremonie nicht länger beiwohnen. Er sagte das auch Priziac, doch der beachtete ihn kaum. Henri gab daher dem Bader ein Zeichen, ihn hinauszulassen, was dieser auch tat.
Draußen atmete Henri tief durch. Sah es nur wie Irrsinn aus, oder war es wirklich Irrsinn, was die Heiler dort drinnen praktizierten? Oder verfügten sie tatsächlich über geheimes Wissen? Wenn der Magister sie gewähren ließ, musste er wissen, was und warum sie es taten. Henri hatte Priziac bisher vertraut. Und neue Wege einzuschlagen war sicher keine falsche Entscheidung bei dem anhaltenden Elend, das sie umgab. Schlimmer konnte es kaum noch werden. Geheuer waren Henri die Zeremonien der Wunderheiler aber dennoch nicht.
Verstört streifte er sich seine Pestmaske über und ging zu den Gefährten zurück. Die Straßen waren menschenleer. Die Schatten, die der Mond vom wolkenlosen Himmel warf, schienen sich alle mit ihm zu bewegen.
Nur ein falscher Schritt, dachte er, und wir stehen am Abgrund.
14
Ende Mai 1318. Angélique
Im Haus des Buchmalers herrschte Totenstille. Die Wohnung des Hausbesorgers stand leer. Andres Frau war am Morgen nach einem kurzen, heftigen Kampf gegen die Seuche gestorben. André hatte daraufhin beschlossen, seinen Posten aufzugeben. Das Elend, das ihn umgab, war für ihn derart niederschmetternd, dass die alten Gewohnheiten und Beschäftigungen für ihn keinen Sinn mehr ergaben.
Sean saß im Halbdunkel an Angéliques Krankenbett. Ihm war bewusst, dass es nun bald mit ihr zu Ende gehen würde. Er hätte Magister Priziac holen sollen oder einen anderen der Ärzte, auch Henri, Joshua oder Uthman wären sicher sofort gekommen. Doch Sean konnte sich nicht bewegen, eine unsichtbare Hand fesselte ihn an das Bett seiner Geliebten, und er konnte seinen Blick nicht von ihr wenden.
Die Krankheit verbindet die Menschen nicht, dachte er traurig, sie reißt sie auseinander. Alles, was einst hoffnungsvoll schien, bricht nun zusammen. Die Seuche schert sich nicht darum, was
Weitere Kostenlose Bücher