Treue in Zeiten Der Pest
Holzläden angelehnt waren. Es ist verboten, dachte er. Niemand darf den Tod herausfordern. Er hatte diese Lektion längst begriffen. Einmal hatte er mit seinem Herrn darüber gesprochen, und der hatte es ihm genau erklärt. Jedes Leben lag in Gottes Hand. Er war es, der die Menschen richtete und entschied, was mit ihnen geschah. Angélique hatte er jetzt zu sich geholt, Sean nicht. Der Mensch durfte sich nicht anmaßen, Gottes Entscheidungen in Frage zu stellen oder selbst in die Hand zu nehmen.
Sean griff in seine Tasche, zog seine klappenlose Flöte, die er »Schwögel« nannte, hervor und spielte ein leises, melodisches Lied. Obwohl er eine schöne, helle Singstimme hatte, zog er es vor, nur zu spielen. Wenn Angélique seine Klänge hören konnte, würde sie wissen, dass er es war, der für sie spielte.
Was sollte er tun?
Unentschlossen spielte er weiter. Dann steckte er die Flöte wieder ein. Entweder er holte den Leichenbeschauer, der Angélique dann abholte und in einen der braunen Kartoffelsäcke steckte, damit sie auf die Straße geworfen werden konnte, oder er legte sich neben sie, um ihr zu folgen.
Sean spürte sein eigenes Leben in diesem Moment nicht. Er war von Trauer übermannt. Er trat an das Totenbett. Angélique sah so friedlich aus. Musste man sterben, um Frieden zu finden? Warum war das vor dem Tod nicht möglich?
Sean war unschlüssig. Sollte er freveln? Oder sollte er abwarten, um zu erfahren, was Gott für ihn vorgesehen hatte?
Er drehte sich um und stieß die Läden auf. Sein Blick streifte über die Türme der Stadt. In der Ferne zogen Vögel über die geschlossenen Stadttore hinweg.
Joshua war wieder so weit hergestellt, dass er das Haus von Medicus Monacis verlassen konnte. Am liebsten wäre er zusammen mit Uthman in die nahe liegenden Wälder gegangen. Er wollte Kräuter sammeln, die helfen konnten, die Seuche zu bekämpfen. Doch solange die Tore verschlossen waren, war daran nicht zu denken. Und der Stadthauptmann dachte nicht daran, sie öffnen zu lassen. Joshua vermutete dahinter den Irrglauben, die wirkliche Pest würde draußen lauern und mit noch stärkerer Kraft eindringen, wenn die Tore geöffnet würden.
Aber sie ist hier, dachte er verzweifelt. Sie lässt sich nicht aussperren, sie ist unter uns und wird uns alle auslöschen!
Was konnte er tun?
Joshua beschloss, nach Sean zu sehen. Der Knappe war bei Angélique, Joshua hatte ihn schon seit Tagen nicht mehr zu Gesicht bekommen. War es nicht ein Wunder, dass Angélique überhaupt noch am Leben war?
Joshua streifte die Pestmaske über, die Monacis ihm gegeben hatte. Obwohl er sicher war, dass die Stadt inzwischen nicht einmal mehr für Übergriffe auf Juden genügend Kraft besaß, blieb er vorsichtig. Er ging durch die Straßen, und auch er war entsetzt über den Verfall. In jeder Straße lagen Tote. Hunde schnüffelten an ihnen herum. Der Leichengestank war unerträglich. Wurde überhaupt noch jemand behandelt, oder überließ man die Erkrankten ihrem Schicksal?
Fürchterliches geschieht von gewaltigem Ausmaß, dachte Joshua. Wir müssen sehr viel Schuld auf uns geladen haben, dass die Feuer des Herrn uns nun alle verbrennen.
Als er das Haus des Buchmalers erreichte, fand er die Eingangstür nur angelehnt. Auch hier schien die Gleichgültigkeit Oberhand gewonnen zu haben. Joshua trat ein und rief nach Sean. Er lauschte und hörte ein ersticktes Geräusch. Schnell lief er die Treppe hinauf.
Die Szene, die sich ihm in der Krankenkammer bot, ließ ihn erstarren. Angélique lag erstarrt auf ihrem Lager. Sean saß neben ihr, er hatte sich halb aufgerichtet, und Joshua sah, dass er ein Messer in der Hand hielt.
Entsetzt trat Joshua in das Zimmer.
»Was tust du, Sean?«, fuhr er den Knappen an.
»Sie ist tot«, entgegnete der Junge mutlos.
»Aber du lebst. Und du hast noch so viel Kraft in dir. Wir alle brauchen dich. Du kannst uns doch jetzt nicht verlassen. Es gibt viel zu tun!«
»Joshua! Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Joshua trat entschlossen ans Lager und nahm Sean das Messer aus der Hand.
»Du wirst doch dein Leben nicht wegwerfen wollen! Henri wartet auf dich. Wir müssen zusammenhalten.«
»Aber Angélique ist tot! Sieh doch nur!«
Joshua strich Sean väterlich über den Kopf.
»Ich sehe es, Sean. Und es tut mir unsäglich Leid, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Trotzdem darfst du dich selbst nicht aufgeben. Wir werden Angélique würdevoll bestatten. Sie wird nicht den städtischen Pestbütteln
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