Treuepunkte
Lauf. Tamara, meine Nachbarin, verlässt quasi zeitgleich ihr Haus gegenüber und kommt sofort auf Inge zu. Ich versuche das Schlimmste zu verhindern, trete schnell auch vor die Tür und gebe Tamara, hinter Inges Rücken gestikulierend, Zeichen. Lege mir den Finger auf den Mund und schüttle den Kopf. »Halt ja die Klappe. Kein Wort von der Thrombose«, soll das heißen. Ich hätte es mir schenken können. Für subtile Zeichen ist Tamara leider nicht die richtige Ansprechpartnerin.
»Sie Arme, Sie. Das ist ja alles furchtbar«, begrüßt sie Inge. Die ist, verständlicherweise, irritiert. Ich muss dringend eingreifen, denn wenn Tamara jetzt richtig loslegt, wird Inge glauben, ich sei geisteskrank, und aus diesem Schlamassel wieder rauszukommen, wird dann echt
schwierig. »Hallo Tamara«, reiße ich das Gespräch an mich, »der Inge geht’s prima«, gerade so, als wäre meine Schwiegermutter taubstumm. Tamara schaut erstaunt. »Na, das ging aber schnell. Ich kannte mal jemanden, der hat da jahrelang mit rumgemacht.« Bevor die bösen Wörter Thrombose, Bein oder Krankenhaus fallen, muss Inge hier weg sein. Am liebsten würde ich Tamara den Mund zuhalten und sie zurück in ihr Haus schieben. Und noch dazu bin ich selbst schuld an der Situation. Ich hätte es wissen müssen! Mit bizarren Lügengeschichten kommt man eben nicht weit. »Inge, wegen der Kinder. Denkst du dran, die morgen pünktlich zu holen?«, lenke ich vom Thema ab. Wenn die Kinder ins Spiel kommen, vergisst Inge für gewöhnlich alles andere. »Natürlisch, Andrea. Isch weiß gar net, warum de des extra sachst, mer warn doch nie zu spät, odä?« Wie wahr. Inge und Rudi sind im Gegenteil überpünktlich. Aber bei Tamara scheint der Groschen gefallen zu sein. »Wie nett, Sie nehmen trotzdem die Kinder, das ist ja toll von Ihnen.« Bis auf das trotzdem ging der Satz. Inge guckt erst mich und dann Tamara an und man merkt, dass sie sich sehr wundert. »Das Wettä bekommt mir aach net so gut«, sagt sie ganz freundlich, und ich glaube, das soll heißen: »Ihr spinnt, aber ich hoffe, es ist das Klima und ihr seid weder wahnsinnig noch drogensüchtig hier in dieser Siedlung.« So oder so – unsere Konversation war ein klassisches, wirres Aneinandervorbeireden. Aber immerhin hat niemand das Wort Thrombose gesagt. Inge, sonst einem guten Schwatz nie abgeneigt, geht. Freiwillig. Vielleicht hat sie Angst, sie könnte sich bei uns anstecken oder sie will einfach nur schnell ihren Sohn anrufen, um zu fragen,
warum seine Frau so von der Rolle ist. Egal – Hauptsache sie ist erst mal weg.
»Was war denn das?«, fragt mich Tamara neugierig. Ich schwindele ein wenig weiter, erzähle was davon, wie ungern Inge über ihre Thrombose spricht und dass ich ihr deshalb versprechen musste, mit keinem darüber zu reden. Tamara ist erstaunt, weil sie Inge ganz anders eingeschätzt hätte (zu Recht!), glaubt mir aber (gut, sie glaubt schnell mal was – insofern ist sie eine, die man recht einfach beschwindeln kann!) und gibt deshalb auch Ruhe.
Als ich mich verabschiede – schließlich wartet mein Boden darauf, fertig gewischt zu werden und Christoph sollte ich auch dringend noch anrufen, wegen meiner Vernissage-Verabredung mit Sabine –, macht es bum. Meine Tür ist zu. Und ich stehe draußen. Und das ohne Schlüssel. In meiner Thrombose-Panik habe ich ihn drinnen hängen lassen. Die Person, die einen Schlüssel zu unserem Haus hat, ist gerade fünf Minuten weg und besitzt auch kein Handy. Inge. So ein verdammter Mist! Das hat mir gerade noch gefehlt. »Ich sag ja immer, du solltest uns einen Schlüssel geben. Es ist einfach sinnvoll, bei den Nachbarn einen Schlüssel zu hinterlegen«, sagt Tamara und bietet mir trotzdem netterweise sofort Asyl. Was nun? Auch mein Autoschlüssel hängt fein säuberlich am Schlüsselbrett, wo er hingehört, und ich muss in Kürze meinen Sohn abholen.
»Ruf doch Christoph an, ob er eben vorbeikommt!«, schlägt Tamara vor und hält mir ihr Telefon hin. Was nun? Zugeben, dass wir seit Tagen nur noch notdürftig
kommunizieren und dass er deshalb bestimmt keine riesige Lust hat, schnell mal nach Hause zu fahren, um seiner dusseligen Frau die Tür aufzuschließen? »Ich glaube, der ist am Gericht, da hat der sein Handy nicht an«, lüge ich weiter, aber Tamara bleibt beharrlich. »Ruf doch wenigstens in der Kanzlei an, damit sie ihm Bescheid sagen können, wenn er sich meldet.« Dazu fällt mir keine einigermaßen gescheite Ausrede mehr
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