Tribunal
überrascht. »Nehmen Sie Platz!« Er wies auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. »Sie sehen mich hier im Aufbruch.«
Stephan sah, dass die Seitenregale an den Wänden leer und die Bücher in Umzugskartons verstaut waren.
»Noch rund einen Monat«, erklärte Frodeleit.
»Dann?«
»Dann werde ich Vorsitzender. Aber ich darf schon jetzt in mein neues Dienstzimmer umziehen.«
Auf Stephans fragenden Blick ergänzte er:
»Die Vorsitzendenzimmer sind anders, die haben zwei Fenster. In den anderen Zimmern gibt es nur eins. Ich bekomme ab sofort ein Zimmer mit zwei Fenstern.«
Stephan antwortete nicht.
»Besuchen Sie mich eigens hier, Herr Knobel?« Frodeleit fixierte abschätzend seinen Gast.
»Nein«, beantwortete er sich selbst. »Sie sind nicht extra bis hier in die Provinz gekommen. Sie hatten hier eine Verhandlung, stimmt’s?«
Stephan nickte.
»Sie tragen keinen Langbinder«, stellte Frodeleit fest.
»Aber ich sehe Ihnen das nach. Sie sind ja nicht in meiner Sitzung.« Er lächelte.
»Ich komme wegen Büllesbach«, sagte Stephan.
»Ja?« Frodeleit blickte erwartungsvoll auf. »Was ist mit Büllesbach?«
»Ich möchte wissen, was wirklich passiert ist, nachdem wir uns im Stollen getrennt haben.«
»Aber das wissen Sie doch, lieber Knobel.« Frodeleit bat ihn nochmals, Platz zu nehmen.
»Nein, ich bleibe stehen. Sagen Sie mir nur, was passiert ist!«
»Sie wissen aus den Protokollen, was passiert ist, Herr Knobel«, antwortete Frodeleit ungeduldig. »Und ich weiß, dass Sie zu dieser Sache auch von der Polizei befragt worden sind. Völlig korrekt und absolut notwendig. Ich kann jetzt also nur das wiederholen, was ich bereits selbst bei der Vernehmung gesagt habe. Soll ich das tun, Herr Knobel?«
»Vielleicht … Ja, tun Sie es!«
»Vielleicht … Sie wissen, dass ich diese Unschlüssigkeit hasse.«
»Ja, tun Sie es!« Stephan setzte sich nun doch.
»Worauf wollen Sie hinaus, Herr Knobel? Lassen Sie uns die ganze Prozedur abkürzen. Sie kommen, weil Frau Schwarz Sie geschickt hat. Ist es so?«
»Nein«, widersprach Stephan. »Sie ist nicht die treibende Kraft. Mir selbst stellen sich Fragen, die ich nicht zu beantworten weiß.«
»Also?«
»Ich versteh die Geschichte mit dem Kurzschluss nicht, Herr Frodeleit!«
»Was verstehen Sie daran nicht?« Frodeleit begann, die Zimmerpflanzen von dem Fensterbrett seines Büros in einen leeren Karton zu stellen.
»Die Polizei hat mir erklärt, was passiert ist. Sie haben in dieser sogenannten Sitzungspause Wasser getrunken und danach die unverschlossene Flasche wieder in den Wasserkasten stellen wollen. Aus welchen Gründen auch immer ist sie nicht in ihr Fach gerutscht, sondern umgefallen und ausgelaufen. Just in den alten Heizlüfter, der daneben stand und zwar ausgeschaltet, aber immerhin unter Strom war. Mit anderen Worten: Das Wasser kann in dem Heizlüfter auch dann einen Kurzschluss auslösen, wenn das Gerät gar nicht eingeschaltet ist.«
»Korrekt, Kollege Knobel. Was stört Sie daran?«
»Der Vorgang ist zu kompliziert. Wie soll so etwas zufällig funktionieren?«
Frodeleit hob vorsichtig eine Wasserranke an und stellte sie behutsam in einen Karton. »Ob etwas zufällig geschieht, hängt nicht davon ab, ob es insgesamt lebenswahrscheinlich ist oder nicht. Das sollten Sie als Jurist wissen, Herr Knobel! Vor vielen Jahren sind in München Menschen in einem Linienbus ertrunken, der in eine unter der Straße befindliche U-Bahn-Baustelle eingebrochen war. Würde man statistisch untersuchen, wie wahrscheinlich es ist, in einem Linienbus zu ertrinken, dann dürfte das Ergebnis um ein Vielfaches unwahrscheinlicher als sogar ein mehrfacher Lottogewinn im Leben eines Menschen sein. Ich verstehe Ihre Frage nicht. Trauen Sie mir nicht zu, eine Sprudelflasche richtig in den Kasten zu stellen? Natürlich mache ich das genauso gut oder so schlecht wie Sie, Herr Knobel. Und Sie wissen ebenso wie ich, dass die Flaschen manchmal nicht gerade in den Kasten rutschen. Wenn Sie ganz entspannt zu Hause sind, richten Sie die Flasche neu aus und dann flutscht sie in ihr Fach. Soweit die Theorie. Aber die Praxis war eine andere, Herr Knobel. Ich war aufs Äußerste erregt: Mein Freund Löffke stellt mich als Rechtsbeuger dar. Er will sich strategische Vorteile gegenüber dem zu diesem Zeitpunkt unkalkulierbaren Büllesbach alias Bromscheidt verschaffen. Menschlich ist das doch verständlich, Herr Knobel. Jeder für sich, das ist die Parole, wenn Menschen in
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