Tribunal
Not sind. Es gibt Tausende Beispiele, die das belegen. Wissen Sie, für mich ist es immer ein Vergnügen, wenn ich in einem Kinosaal die schwach beleuchteten Hinweisschilder zu den Notausgängen sehe. Was meinen Sie, Herr Knobel, wie viele zu Tode getrampelt werden, wenn in so einer Bude das Feuer ausbricht und sich Dutzende, nein Hunderte, zu diesen Ausgängen drängen? Da ist sich jeder selbst der Nächste. Meinem Freund Hubert ging es nicht anders. Er sah seine Chance. Und ganz ehrlich: Umgekehrt wäre es mir vielleicht ähnlich ergangen. Wir sind keine Heiligen, Herr Knobel.«
»Aber Sie beide sind Freunde gewesen.«
»Wir sind Freunde«, betonte Frodeleit. »Nach wie vor. Natürlich war das eine Extremsituation, die unser Verhältnis belastet hat. Aber ich wage zu behaupten: Es ist einerlei, ob Löffke oder ich in diesem teuflischen Spiel die eine oder die andere Rolle eingenommen haben. Sie, Herr Knobel, hätten sich an Löffkes Stelle wie Löffke und an meiner Stelle wie ich verhalten. Oder behaupten Sie etwas anderes?«
Frodeleit wartete Stephans Antwort nicht ab.
»Sehen Sie!«, sagte er. »Es ist auch nur normal. Wir sollten nicht so tun, als würden wir unter bestimmten äußeren Bedingungen nicht vieles von dem über Bord werfen, was wir unter normalen Umständen als den Inbegriff unserer Moral begreifen.«
»Das ist schön«, befand Stephan. »Umso mehr, wenn diese Lossagung in einem Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg erfolgt. Die Symbolkraft ist beeindruckend.«
»Ich verstehe durchaus Ihre Spitze, Herr Knobel, aber ich sage nur die Wahrheit. Und ich erlaube mir, Ihnen zu verbieten, von Ihrem rein hypothetischen Standpunkt aus zu werten und zu richten. Sie und Ihre hübsche Frau Schwarz waren in der Bunkeranlage lediglich Zuschauer und in der bequemen Situation, dies von Anfang an zu wissen und sich in der Gewissheit zu sonnen, dass Ihnen nichts passieren würde. Büllesbach hat Löffke und mich gegeneinander positioniert und seinen Terror durch ein Droh- und Bestrafungssystem perfektioniert, das wir ernst nehmen mussten. Heute ist es leicht zu sagen, dass der ganze technische Kram nur Spielerei war. Ich habe es nicht gewusst. Wussten oder ahnten Sie es, Herr Knobel?«
Stephan verneinte.
»Sehen Sie! Und deswegen gibt es an dem, was Löffke oder ich getan oder unterlassen haben, auch nichts zu werten oder zu deuten. Wir haben beide die Grenzen unserer menschlichen Stärken erfahren. Diese Grenzen sind nicht so weit gesteckt, wie wir es uns in der Theorie gewünscht haben, aber mit dieser Erkenntnis müssen Hubert und ich gleichermaßen leben. Wir haben uns auf neuer Ebene wiedergefunden. – Wissen Sie überhaupt, was ich meine, Herr Knobel?«
Stephan merkte, dass sich Frodeleit wütend auflud, obwohl er sachlich zu argumentieren versuchte. »Im Allgemeinen sagt man, dass sich Freundschaften in Extremsituationen bewähren«, erwiderte Stephan, »doch bei Ihnen scheint es so zu sein, dass Sie sich in der Gefahrensituation wechselseitig in die Pfanne gehauen haben. Offensichtlich pflegen Sie und Herr Löffke eine Freundschaft ganz besonderer Qualität. Ich muss Ihre Freundschaft nicht verstehen, Herr Frodeleit. Ich bin nur dem zufällig ausgelösten Stromausfall auf der Spur. Wie ich erfahren habe, lag der Heizlüfter mehr als einen Meter neben dem Wasserkasten. Sie wissen wie ich, dass sich der Heizlüfter, auch wenn er ausgeschaltet war, nie in der Nähe des Wasserkastens befand. Ganz im Gegenteil: Der Wasserkasten stand, soweit ich es erinnere, die ganze Zeit über auf der anderen Stollenseite.«
»Das heißt?«
»Sie haben den Wasserkasten auf die andere Seite geschafft, ihn direkt neben den Heizlüfter gestellt, eine oder vielleicht auch mehrere gefüllte Wasserflaschen geöffnet und sie waagerecht oder schräg auf den Kasten gelegt, damit sich das Wasser in den Heizlüfter ergießen kann. Vielleicht haben Sie das Wasser auch direkt in den Heizlüfter hineingeschüttet. Wie auch immer: Sie haben den Kurzschluss bewusst herbeigeführt, Herr Frodeleit. Und nach der Attacke auf Büllesbach sind Sie auf dem Weg zurück nochmals in diesen Stollen gegangen und haben den Wasserkasten rund einen Meter weiter geschoben, damit der Kurzschluss durch auslaufendes Wasser noch irgendwie darstellbar ist, aber nicht als Ergebnis eines Planes gelten kann. Eine Flasche haben Sie dann schräg oder waagerecht auf den Kasten gelegt.«
»Dann müsste Herr Löffke dies bestätigen können, Herr Knobel. Wie Sie
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