Tribunal
Freiheit beraubt hat. Aus den Tätern Frodeleit und Löffke sind die Opfer und aus meinem Bruder der Täter geworden. Mit dem Täter hat man kein Mitleid. Dem Richter sieht man nach, wie er sich unter der Androhung von Gewalt verbiegt. Das ist nicht die Wirklichkeit, sagt man draußen. Dort unten war eine Kunstwelt, ein Szenario, das weit von unserer Realität entfernt ist und ihr doch ganz nahekommt. All das hat mein Bruder grandios inszeniert. Ich finde seine Kathedrale großartig!«
»Frodeleit ist ein Schwein«, sagte Marie.
»Es freut mich, dass Sie das so klar sehen«, erwiderte Britta Stein. »Und Löffke ebenso. Wie stehen Sie zu ihm, Herr Knobel? Sie haben meine vorherige Frage nicht beantwortet.«
»Ich überlege, die Kanzlei zu verlassen. Nicht zuletzt wegen Löffke.«
»Und?« Britta Stein sah ihm fest ins Gesicht. »Können Sie es?«
»Ich denke, nein.«
Britta Stein lächelte. »Sie müssen noch weiter nachdenken, Herr Knobel! Was hält Sie in einer Kanzlei, in der solche Menschen arbeiten? Ein Rechtsanwalt, der seine Mandanten einem willkürlichen Richter opfert. Aber es ist nicht alles schlecht, nicht wahr? Es gibt doch sicher vieles, was Sie an der Kanzlei schätzen. Sie trägt immerhin Ihren Namen. Es hat kein Jahr gedauert, bis Sie diesen Aufstieg geschafft hatten. Ein riesiger Karrieresprung, Herr Knobel.«
»Sie sind gut unterrichtet, Frau Stein«, staunte Knobel.
»Mein Bruder hat sämtliche Entwicklungen in der Kanzlei verfolgt. Er kannte die Internetpräsentation, die Reden des Seniors vor den Wirtschaftsverbänden und die gelegentlichen Zeitungsartikel in der Rubrik ›Ihr Recht‹. Natürlich kennt er auch das Zeitungsfoto aus dem Golfklub anlässlich des 30-jährigen Bestehens. Das Foto zeigt Löffke und Frodeleit und ein paar andere Golfer, als sie mit noblem Rotwein auf das Jubiläum anstoßen. Er observierte die beiden regelrecht. Glauben Sie mir: Er hat eine ganze Menge über die beiden erfahren. Soweit es mein Bruder beurteilen konnte, gehören Sie nicht zu dem Typ Löffke. Sie sind sicher anders, da hat Ihre Freundin bestimmt recht. Dass Sie hier sind, beweist, dass Ihnen die Sache durch den Kopf geht. Stellen Sie doch endlich die Frage, die Sie beschäftigt: Wird ein schwerkranker Mann, dem man zweifellos die Krankheit nicht so sehr ansieht, eine Schlägerei mit zwei Männern anfangen, die ihm körperlich weit überlegen sind? Wird er so stark ausholen und die beiden anderen so sehr verletzen können, dass sie sich mit harten Schlägen und Tritten wehren müssen? Es gehörte ja nicht nur zum Schauspiel meines Bruders, in der Kathedrale nicht persönlich zu erscheinen und stattdessen über Mikrofone und Lautsprecher zu kommunizieren. Nein, Herr Knobel: Er war einfach zu schwach, um sich über Stunden auf den Beinen zu halten. Er schaffte es gesundheitlich nicht.«
»Ich denke ja in die gleiche Richtung«, bekannte Stephan.
»Deshalb sind wir hier«, bekräftigte Marie.
»Ich weiß.« Britta Stein lächelte wieder. Ihr Mann stand auf und trat ans Fenster. »Kommen Sie!«, bat er.
Marie und Stephan gingen zu ihm. Die Landschaft lag still und weiß vor ihnen. Rechts, ein Stück weiter unten im Tal, begann dichter Nadelwald, dessen Bäume soldatisch streng aneinandergereiht wie eine dunkle Wand emporragten. Unten glänzte das Wasser im beheizten Pool.
»Er ist hier gern geschwommen. Zu jeder Jahres- und zu jeder Tageszeit. Auch schon, bevor er krank wurde. Bernd war hier stets ein gern gesehener Gast. Und ich glaube, ihn in all den Jahren gut genug kennengelernt zu haben. Er war ein ruhiger, sehr zurückhaltender Mensch. Sie mögen über seine Aktion im Bunker denken, was Sie wollen, aber die Schlägerei passt bereits von seinem Charakter her nicht zu ihm. Im Übrigen wird er, da hat meine Frau recht, in all den Stunden, die er unten verbracht hat, körperlich schwächer geworden sein. Verstehen Sie, Herr Knobel, er wäre zu schwach gewesen, überhaupt davonzurennen. Er hätte gar nicht mehr flüchten können.«
»Aber Frodeleit und Löffke wussten nichts von seiner Krankheit«, wandte Stephan ein.
»Sie wissen genau, was ich meine, Herr Knobel«, sagte Stiezel und blickte unverwandt auf das dampfende Wasser.
7.
Stephan Knobel nutzte die Gelegenheit, nach einer Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht Hamm den Trakt mit den Dienstzimmern der Richter aufzusuchen. Als er hereingebeten wurde, stand Achim Frodeleit hinter seinem Schreibtisch.
»Herr Knobel!«, sagte er
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