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Tribunal

Tribunal

Titel: Tribunal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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dorthin. Er hätte an der Oberfläche zum anderen Ende des Bahnhofs rennen und nun dort am oberen Ende der Treppe stehen können.
    Die Rolltreppe am anderen Bahnsteigende setzte sich surrend abwärtsfahrend in Bewegung. Es gab kein anderes Geräusch, nur das monotone Brummen der Rolltreppenmotoren. Marie starrte auf die silbrig glänzenden Stufen, die ihn zu ihr nach unten befördern würden. Eine Stufe fügte sich hinter die andere und verschwand geschmeidig unter der Austrittsfläche. Marie ging ihm wie ein Automat entgegen. Sie würde nicht mehr vor ihm flüchten, sondern sich ihm stellen. Sie durfte sich nicht in die Opferrolle drängen lassen. Sie hatte gelernt, dass man entschlossen auftreten sollte. In ihrer Handtasche wühlte sie mit zittrigen Händen nach der Dose mit dem Reizspray. Sie trug das Spray stets bei sich, wenn sie abends allein unterwegs war. Sie fühlte die kleine Dose in ihrer Tasche, doch dann ließ sie sie wieder los. Was konnte sie wirklich damit gegen ihn ausrichten? Er war sportlich und durchtrainiert, er würde ihr die Dose aus der Hand schlagen und lachen. Das höhnische Lachen hatte sich in sie eingebrannt. Die Angst fraß sich in ihr fest. Sie wollte laufen und konnte nicht. Die Rolltreppe lief ruhig und gleichförmig, die Gummihandläufe glänzten feucht im Neonlicht. Was machte er da am oberen Treppenende? Eigentlich müsste die Treppe längst zum Stillstand gekommen sein. Sie schaltete sich doch sonst immer wieder von selbst ab, wenn sie nicht benutzt wurde. Also stand er wohl oben in der Lichtschranke und löste den Kontakt immer wieder aus. Genoss er es, dass sie ihn jede Sekunde erwarten musste, er die Rolltreppe in Betrieb hielt und damit das leicht schlagende Surren quälend in sie hineinkroch? Warum lief sie nicht zur Notrufsäule, warum machte sie sich nicht vor den Beobachtungskameras bemerkbar? Warum hielt er sie an diesem Platz fest, ohne sie zu berühren?
    »Sie können gleich rauffahren.« Der Reinigungsmann auf der Rolltreppe sprach mit hartem osteuropäischen Akzent. Er hielt eine blaue Mülltüte in Händen. »Fassen Sie nicht das Handgummi an! Es ist noch nass. Ich habe alles abgewischt. Es ist wie neu.« Er sagte es eigentümlich stolz.

11.
    Marie rannte nach Hause. Sie schlug die Tür hinter sich zu und verriegelte sie. Stephan war wach geworden. Als er in die Diele kam, lehnte Marie heftig atmend mit dem Rücken an der Wohnungstür. Dann fiel sie in seine Arme und heulte. Sie verschluckte bebend ihre Worte. Sein Streicheln konnte das Zittern nicht ersticken.
    »Es war Frodeleit«, sagte sie immer wieder. »Frag mich nicht, woher er wusste, dass ich diese Bahn nehme! Aber er war es, Stephan, glaub mir! Ich habe sein Gesicht lange genug gesehen.«
    »Und er hat wirklich kein Wort gesagt?«, fragte Stephan.
    »Ich weiß, wie bescheuert sich das anhört. Aber es ist wahr. Ich werde nie wieder mit der Bahn fahren, so viel steht fest.«
    Sie begann zu heulen.
    »Marie …!«
    »Nein!«
    Sie fasste nach, ob die Wohnungstür auch wirklich verschlossen war. Was sollte Frodeleit um Mitternacht in der verlassenen U-Bahn-Haltestelle in der Nordstadt wollen? Aber Stephan wagte nicht, Marie zu fragen, ob sie sich vielleicht geirrt habe. Frodeleit hatte ein Dutzendgesicht. So wie er sahen viele Männer seines Alters aus, die in der Mitte ihres Lebens begannen, ihr Äußeres zu pflegen und einen Rest Jugendlichkeit mit vorgeblicher reifer Männlichkeit zu verbinden. Es waren die hoch aufgeschossenen sportlichen Gestalten mit bräunlichem Teint und kurzen Haaren, die Macher, die lässig und strebsam, locker und verspannt waren und stets Aufmerksamkeit erheischten. Sie waren aller Orten und in allen Schichten anzutreffen. Der Typ Frodeleit war Richter und Banker, Lehrer und Sachbearbeiter in der Versicherung, Frührentner und Zuhälter. Aber Marie war sich sicher gewesen.

12.
    Am nächsten Morgen rief Stephan von der Kanzlei aus das Oberlandesgericht Hamm an. Frodeleit hatte Sitzung. Er erreichte ihn erst am frühen Nachmittag.
    »Ich habe keine Lust, mit Ihnen zu reden, Herr Knobel«, sagte Frodeleit, als Stephan seinen Namen genannt hatte. »Sie haben genug angerichtet. Die abstruse Drohung, die Sie Löffke gegenüber ausgesprochen haben, wird ihre Wirkung verfehlen. Ich werde selbst darauf bestehen, dass Büllesbachs Tod noch einmal im Detail überprüft wird. Sie dürfen mir glauben, dass es nicht nur in meinem Interesse ist, den Nachweis zu führen, dass es sich um einen

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