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Tribunal

Tribunal

Titel: Tribunal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Erfmeyer
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Berufsleben genauso unbeschwert erschien wie damals der Schritt ins Studium. Alles Neue hat einen Zauber und eine Leichtigkeit in sich, der den Blick auf das Reale unwirklich erscheinen lässt. Marie nahm die letzte Bahn ab Stadtgarten und war der einzige Fahrgast. An der Reinoldikirche stieg noch ein Mann zu, bekleidet mit dunklem Wintermantel und Wollmütze. Er nahm im vorderen Zugteil Platz und saß mit dem Rücken zu ihr. Marie wählte ihren Sitzplatz stets in der Nähe der Türen und der Notruftasten. Nächtliches U-Bahn-Fahren bedeutete, immer auf dem Sprung zu sein. Marie hatte gelernt, zwischen friedfertigen Mitfahrern und möglichen Angreifern zu unterscheiden. Wenn ihr jemand verdächtig erschien, wechselte sie den Platz, stand selbstbewusst auf und studierte oberhalb der Türen das schematisiert dargestellte Liniennetz, bevor sie sich woanders wie beliebig hinsetzte, die Beine entspannt übereinanderschlug und lauernd die rückwärtige Gefahr aus den Augenwinkeln im Blick behielt.
    Der Zug endete an der Brunnenstraße. Die synthetische Lautsprecherstimme bat die Fahrgäste auszusteigen. Marie trat auf den Bahnsteig. Einige Türen weiter vorn verließ der Mann den Zug, bevor die Schwenktüren dumpf aneinanderschlugen und die Bahn hinter der Haltestelle in ein von hier unsichtbares Abstellgleis fuhr.
    Der Mann mit dem dunklen Mantel war Marie vorausgegangen, aber sie sah ihn nicht mehr. Es war still auf dem Bahnsteig. Marie näherte sich der Rolltreppe, die auf die Verteilerebene führte. An der Edelstahlsäule neben der Treppe blinkte in gelber Schrift das Wort ›WARTE‹. Sie wollte gerade durch die Lichtschranken treten, die die Fahrtrichtung der Rolltreppe wechseln ließen, als sich die stählernen Stufen nach unten in Bewegung setzten. Marie blickte nach oben. Jemand wollte die Treppe zum Bahnsteig hin nutzen. Doch sie sah niemanden. Die Treppenstufen leierten schleifend vor sich hin. Sie wartete verunsichert. Die Rolltreppe kam quietschend zum Stillstand. Das Wartesymbol erlosch und wechselte in einen blauen Pfeil, der nach oben wies. Sie betrat die Treppe. Der Handlauf bewegte sich nicht synchron. Er war schneller als die Treppenstufen. Sie versuchte ihn festzuhalten, wie sie es als Kind immer im Kaufhaus gemacht hatte. Doch der Handlauf zog sie mit. Sie lächelte und nahm die nächste Stufe. Einen Augenblick waren Hand und Körper auf einer Höhe, dann zog der schwarze Gummi die Hand weiter nach vorn. Die Rolltreppe spielte mit ihr.
     
    Er wartete am oberen Ende der Treppe. Sie nahm ihn zunächst nur verschwommen wahr. Ein Schatten, der sich über sie warf, während sie ihm entgegenfuhr. Marie sah zu ihm auf, erschreckt und gelähmt und zugleich in kindlicher Hoffnung, dass der Mann nichts wollte, der am Ende der Treppe stand und mit seinen in die Hüften gestützten Armen den dunklen Mantel wie einen Umhang aufgebläht hatte. Unter der schwarzen Mütze grinste ein breiter Mund aus einem Gesicht mit braunem Teint. Die Rolltreppe baggerte sie der Gestalt entgegen. Marie redete ihn unsicher und unterwürfig freundschaftlich an, ängstlich, weil sein Gesicht bedrohlich und unwirklich war und befreit, weil sie ihn erkannt hatte. Der dunkle Geist hatte Namen und Gesicht erhalten. Das Absurde ihres Zusammentreffens in diesem Bahnhof harrte der Auflösung.
    »Was machen Sie denn um diese Uhrzeit hier?«, fragte sie so normal, wie sie es konnte, und fügte sich der maschinenhaft arbeitenden Treppe, die sie ihm auszuliefern drohte.
    »Hallo?«, fragte sie noch vertrauter und noch ängstlicher, als sie nurmehr wenige Meter von ihm entfernt war.
    Er sagte nichts. Die Wollmütze war tief heruntergezogen. Er hielt die Arme nun verschränkt und sah sie unbewegt an. Er grinste nur.
    Marie wich erschreckt zurück, stürzte fast, drehte sich um, hastete die Stufen hinunter, der Fahrtrichtung entgegen, übersprang zwei Stufen, stolperte wieder und konnte sich gerade noch fangen. Sie stockte, doch die Rolltreppe ließ ihr keine Zeit. Sie schaufelte sie wieder ihm entgegen. Sie hörte ihn schallend lachen. Als sie endlich am Ende der Treppe festen Boden unter sich hatte, wagte sie einen Blick nach oben. Doch die Gestalt war verschwunden.
    Sie wagte nicht, nach oben zu gehen, und starrte ersteinert dort hin, wo sie ihn wie einen Dämon grinsend gesehen hatte. Unten auf dem Bahnsteig war noch immer niemand. Sie hätte über den Bahnsteig gehen und den Ausgang am südlichen Ende nehmen können, aber sie wagte sich nicht

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