Tribunal
nicht die Aufnahmen aller Kameras sämtlicher 23 U-Bahnhöfe der Stadt gleichzeitig anschauen. Warum Marie denn nicht die Nottaste auf dem Bahnsteig gedrückt habe? Dann wären auf den Monitoren der Zentrale sofort die Bilder aus dem Bahnhof Brunnenstraße erschienen. Stephan hatte Marie dieselbe Frage gestellt. Vielleicht, weil ich Frodeleit erkannt habe, hatte sie geantwortet. Vielleicht, weil mich die Angst gelähmt hat, hatte sie ergänzt. Stephan gab Maries Antworten weiter. Daraufhin versprach die Frau, die gestrigen Aufnahmen auszuwerten.
»Es ist schade, dass Ihre Freundin von dem Hilfesystem keinen Gebrauch gemacht hat«, schloss sie. »Wer weiß, manche Menschen haben auch nur Angst, wenn sie allein in einem Tunnel sind.«
Stephan überlegte. Nein, er glaubte Marie. Sie hatte durch den Aufenthalt in den unterirdischen Bunkeranlagen kein Tunneltrauma erlitten. Aber an so was würden die Beamten sicher gleich denken, wenn sie den Vorfall anzeigte, schließlich war der unfreiwillige Aufenthalt im Stollen ja aktenkundig geworden.
Gegen Abend suchte er mit Marie noch einmal die Haltestelle auf. Sie warteten einen Zug ab, der aus der Innenstadt kam. Marie erklärte, dass der Mann die Bahn durch die erste Tür in Fahrtrichtung verlassen habe. Die Züge hielten stets an derselben Stelle am Bahnsteig. Stephan hatte, als er anfangs noch mit der U-Bahn zur Kanzlei gependelt war, herausgefunden, dass die Haltestellen, an denen sich die Zugfahrer orientieren mussten, durch Tafeln im Gleis vorgegeben waren. Dieses Wissen verschaffte ihm meist einen sicheren Sitzplatz, weil er dadurch schon früh die Lage der Türen vorherbestimmen und schneller einsteigen konnte. Der gestrige Zug hatte also sicher an derselben Stelle gehalten.
Die erste Tür befand sich bereits in der Nähe der nördlichen Treppenanlage. Ein Blick an die Decke verriet, dass die Kamera, die den Richtung Norden gehenden Fahrgästen entgegenblickte, in Höhe der zweiten Tür des Zuges installiert war. Die andere, nach Norden ausgerichtete Deckenkamera befand sich ein Stück weiter südlich. Es würde also keine aussagekräftigen Bilder von den Bahnsteigkameras geben. Die eine hatte das Gesicht des Mannes nicht mehr erfassen und die andere aus relativ großer Entfernung nur dessen Rücken aufnehmen können.
Sie stiegen die Treppe zur Verteilerebene hoch. Die dortige Kamera erfasste die Fahrscheinautomaten, aber nicht das obere Ende der Rolltreppe. Resigniert gingen sie zu Maries Wohnung zurück.
»Ich werde nie mehr mit der Bahn fahren«, bekräftigte Marie.
Die Anzeige erübrigte sich.
13.
In der ersten Märzwoche legte Hubert Löffke in seinem Büro zur morgendlichen Sozietätsbesprechung eine Übersicht über das Kanzleikonto vor. In 71 Fällen hatte die Kanzlei Mandanten Geld zurücküberwiesen. Löffke hatte durchsetzen können, dass er für seine zu hohen Abrechnungen nicht selbst einstehen musste, da das Geld schließlich der Sozietät und nicht ihm zugeflossen sei. Er habe alles nur für die Kanzlei gemacht, versicherte er mit geübtem Augenaufschlag, jedes Widerwort unterdrückend. Stephans mahnende Ansprache in der internen Besprechung war verhallt. Die Sozien stellten fest, dass die Rückzahlung die Kanzlei in der wirtschaftlichen Krise hart treffe, und es schien, als sei dieser wirtschaftliche Einbruch gewichtiger als Löffkes Fehlverhalten, das letztlich das Geschäftskonto bereichert hatte. Die gewundene Formulierung, die in dem Serienbrief an die Mandanten auftauchte, beschrieb den Fehler als systemimmanenten Programmierungsmangel in der Abrechnungssoftware, verbunden mit einem sich perpetuierenden Buchhaltungsfehler der Innenrevision. Dem unverständlichen Gefasel folgte eine glühende Beschwörung des Vertrauensverhältnisses zu den Mandanten. ›Im Guten wie im Streit – zur Leistung stets bereit‹, reimte Löffke an das Briefende und belohnte die Sozien beglückt mit Nussecken aus einer nahe gelegenen Bäckerei. Dazu gab es ein Weizenbier aus seinem Bürokühlschrank. Der unterwürfige Neusozius Dr. Dippelstedt rühmte die gewagte Komposition, bevor er mit schelmischem Blick an der Bierflasche nippte.
»Es heißt sonst: Kein Bier vor vier«, wusste Löffke, sah kopfschüttelnd auf die Armbanduhr, setzte seine Flasche an, trank und rülpste.
Stephan zog sich angewidert in sein Büro zurück. Ihn ekelte der Brief an die Mandanten, den er nicht mitunterzeichnete, ihn ekelte das Bier am Morgen, der glitschige Dr. Dippelstedt und
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