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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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immer hatten lesen wollen, für die wir aber dann doch nie Zeit gefunden hatten. Die Harvard-Klassiker, die nur ein Jahr ums andere hinter Glastüren im Bücherschrank im Wohnzimmer stehen. Warum nicht
Krieg und Frieden
, sagte ich, aber Ginny behauptete, das habe sie schon gelesen. Also lief es auf eine Stichwahl hinaus zwischen
Das verlorene Paradies
und
Die göttliche Komödie
, und
Die göttliche Komödie
gewann. Wir wissen darüber nichts weiter, als dass sie eigentlich gar keine Komödie und italienisch ist, obwohl wir sie natürlich auf Englisch lesen werden. Sid dachte, sie sei lateinisch, und sagte, davon habe er in Miss Hurts Klasse genug fürs ganze Leben gelesen, und wir haben ihn alle ausgelacht, und dann tat er so, als habe er es von Anfang an richtig gewusst. Jedenfalls, wo nun
Die Gondolieri
auf Eis liegen, müssten wir eigentlich die Zeit finden, und wir wollen uns alle vierzehn Tage treffen, um uns gegenseitig anzuspornen.
    Wilf hat uns im ganzen Haus herumgeführt. Das Esszimmer ist auf der einen Seite der Diele und das Wohnzimmer auf der anderen, und die Küche hat Einbauschränke und ein doppeltes Spülbecken und den neuesten Elektroherd. Von der hinteren Diele geht ein neues WC und ein elegantes Badezimmer ab, und die Schränke sind so groß, dass man hineinspazieren kann, und haben an der Tür Spiegel, die von oben bis unten reichen. Überall goldgelbes Eichenparkett. Als ich nach Hause kam, sah hier alles so beengt aus und die Täfelung so dunkel und altmodisch. Beim Frühstück habe ich Vater zugesetzt, dass wir doch ans Wohnzimmer einen Wintergarten anbauen könnten, damit wenigstens ein Zimmer hell und modern ist. (Ich habe zu erwähnen vergessen, dass Wilf gegenüber der Praxis auf der anderen Seite des Hauses einen Wintergarten angebaut hat, und das schafft ein gutes Gleichgewicht.) Vater sagte, wozu brauchen wir so was, wenn wir zwei Veranden haben, eine für die Morgensonne und eine für die Abendsonne? Ich werde also nicht weit kommen mit meinen Verschönerungsvorschlägen.
    *
    1 . April. Als Erstes nach dem Aufwachen habe ich Vater in den April geschickt. Ich bin auf den Flur gerannt und habe geschrien, dass eine Fledermaus durch den Schornstein in mein Zimmer gekommen sei, und er kam mit heruntergelassenen Hosenträgern und Rasierschaum im ganzen Gesicht aus dem Badezimmer gesaust und hat zu mir gesagt, ich soll aufhören, zu kreischen und hysterisch zu sein, und den Besen holen. Also hab ich ihn geholt, und dann hab ich mich auf der Hintertreppe versteckt und so getan, als hätte ich schreckliche Angst, und er ist ohne seine Brille überall angestoßen und hat nach der Fledermaus gesucht. Schließlich hatte ich Mitleid mit ihm und hab gerufen: »April, April!«
    Als Nächstes hat Ginny angerufen und gesagt: »Nancy, was soll ich bloß machen? Die Haare gehen mir aus, sie liegen überall auf dem Kissen, große Büschel meiner schönen Haare überall auf dem Kissen, und jetzt bin ich halb kahl, ich kann nie mehr aus dem Haus gehen, kannst du rasch vorbeikommen und schauen, ob wir eine Perücke daraus machen können?«
    Also sagte ich ganz gelassen: »Rühr einfach Mehl in Wasser ein und kleistere sie wieder an. Und ist es nicht komisch, dass es ausgerechnet am 1 . April passiert ist?«
    Jetzt kommt der Teil, den ich nicht so gerne aufschreibe.
    Ich bin zu Wilfs Haus rübergegangen, ohne auch nur auf mein Frühstück zu warten, weil ich weiß, dass er früh ins Krankenhaus geht. Er machte mir selbst in Weste und Hemdsärmeln die Tür auf. Ich hatte es gar nicht erst in der Praxis versucht, denn ich dachte, die würde noch zu sein. Die alte Frau, die ihm den Haushalt führt – ich weiß nicht mal, wie sie heißt –, polterte in der Küche herum. Eigentlich hätte sie mir die Tür aufmachen müssen, aber er war gerade in der Diele, weil er gleich gehen wollte. »Nanu, Nancy«, sagte er.
    Ich sagte kein Wort, zog nur ein leidendes Gesicht und griff mir an die Kehle.
    »Was fehlt dir denn, Nancy?«
    Weiteres Umklammern der Kehle und ein elendes Krächzen und ein Kopfschütteln, um anzuzeigen, dass ich nicht sprechen kann. Ach, jämmerlich.
    »Hier rein«, sagt Wilf und führt mich auf dem Seitenflur zur Praxis. Ich sah, wie die alte Frau nach mir spähte, aber ich ließ mir nicht anmerken, dass ich sie gesehen hatte, sondern blieb bei meinem Theater.
    »Also dann«, sagt er, drückt mich runter auf den Patientenstuhl und knipst das Licht an. Die Jalousien waren noch heruntergelassen,

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