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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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bloß, dass sie eben da draußen wohnte und die Kuh melken musste, bevor sie morgens in die Schule kam, was niemand sonst von uns tat. Ich habe mich immer bemüht, mit ihr befreundet zu bleiben.«
    »Bestimmt«, sagte Ollie sanft.
    Sie fuhr fort, als hätte sie ihn nicht gehört.
    »Ich glaube aber, es hat angefangen – ich glaube, es muss angefangen haben, als sie krank wurde. In unserem zweiten Jahr auf der High School ist sie krank geworden, sie hatte Anfälle. Sie hat die Schule verlassen und ist nie zurückgekommen, und da ist sie dann irgendwie aus allem herausgefallen.«
    »Anfälle«, sagte Ollie. »Epileptische Anfälle?«
    »Das habe ich nie erfahren. Ach« – sie wandte sich von ihm ab – »ich war wirklich abscheulich.«
    Ollie blieb stehen. Er fragte: »Wieso?«
    Nancy blieb auch stehen.
    »Ich habe dich absichtlich dorthin gebracht, um dir zu zeigen, dass wir hier etwas Besonderes haben. Sie. Tessa. Ich meine, um dir Tessa vorzuführen.«
    »Ja. Und?«
    »Weil du meinst, wir haben hier nichts Bemerkenswertes. Du meinst, man kann sich über uns nur lustig machen. Über uns alle hier. Also wollte ich sie dir vorführen. Wie ein Monstrum.«
    »Monstrum ist nicht das Wort, das ich für sie benutzen würde.«
    »Das war aber meine Absicht. Man müsste mir den Schädel einschlagen.«
    »Nicht ganz.«
    »Ich müsste mich bei ihr entschuldigen.«
    »Das würde ich nicht tun.«
    »Nein?«
    »Nein.«
    *
    Am Abend half Ollie Nancy dabei, ein kaltes Essen aufzutragen. Mrs. Box hatte ein gekochtes Huhn und Gemüsesülzen im Kühlschrank gelassen, und Nancy hatte am Samstag einen Biskuitkuchen gebacken, der mit Erdbeeren serviert werden sollte. Sie richteten alles auf der Veranda an, die nachmittags im Schatten lag. Zwischen dem Hauptgang und der Nachspeise trug Ollie die Teller und die Sülzeschüsseln in die Küche.
    Aus heiterem Himmel sagte er: »Ich frage mich, ob irgendeiner von denen daran denkt, ihr mal die eine oder andere Leckerei mitzubringen? Wie ein Huhn oder Erdbeeren?«
    Nancy tauchte die am besten aussehenden Beeren in Fruchtzucker. Nach einem Augenblick sagte sie: »Wie bitte?«
    »Diesem Mädchen. Tessa.«
    »Ach«, sagte Nancy. »Sie hat Hühner, sie kann eins schlachten, wenn sie will. Es würde mich nicht überraschen, wenn sie auch ein Erdbeerbeet hat. Die meisten auf dem Lande haben eins.«
    Ihr Reueausbruch auf dem Rückweg hatte ihr gutgetan, und jetzt war er vorbei.
    »Nicht nur, dass sie kein Monstrum ist«, sagte Ollie. »Sondern sie hält sich selbst nicht für ein Monstrum.«
    »Natürlich nicht.«
    »Sie ist zufrieden, das zu sein, was sie ist. Sie hat bemerkenswerte Augen.«
    Nancy wandte sich an Wilf und fragte ihn, ob er nicht Klavier spielen wollte, während sie sich mit der Nachspeise abplagte.
    »Ich muss die Sahne steif schlagen, und bei diesem Wetter wird das ewig dauern.«
    Wilf sagte, es mache ihm nichts aus zu warten, er sei müde.
    Er spielte dann doch, später, als das Geschirr abgewaschen war und es dunkel wurde. Nancys Vater ging zwar nicht zum Abendgottesdienst – er fand, das sei zu viel verlangt –, aber er duldete am Sonntag keine Art von Kartenspiel oder Brettspiel. Er blätterte wieder die
Post
durch, während Wilf spielte. Nancy saß auf den Verandastufen, außerhalb seiner Sichtweite, und rauchte eine Zigarette, die ihr Vater hoffentlich nicht riechen würde.
    »Wenn ich verheiratet bin …«, sagte sie zu Ollie, der am Geländer lehnte, »wenn ich verheiratet bin, rauche ich, so oft es mir gefällt.«
    Ollie rauchte natürlich nicht, wegen seiner Lunge.
    Er lachte. Er sagte: »Hört, hört. Ist das ein ausreichend guter Grund?«
    Wilf spielte aus dem Gedächtnis
Eine kleine Nachtmusik
.
    »Er ist gut«, sagte Ollie. »Er hat gute Hände. Aber die Mädchen haben früher immer gesagt, sie seien kalt.«
    Er dachte jedoch nicht an Wilf oder Nancy oder die Ehe, die sie führen würden. Er dachte an Tessa, an ihre Eigenart und ihren Gleichmut. Überlegte, was sie wohl an diesem langen, heißen Abend tat, am Ende ihrer Rosenheckengasse. Hatte sie noch Besucher, war sie immer noch damit beschäftigt, die Probleme im Leben anderer Leute zu lösen? Oder ging sie aus dem Haus und setzte sich auf die Schaukel und knarrte hin und her, wobei ihr niemand Gesellschaft leistete, nur der aufgehende Mond?
    Binnen kurzem musste er feststellen, dass sie ihre Abende damit verbrachte, Eimer voll Wasser von der Pumpe zu ihren Tomatenpflanzen zu schleppen und die Bohnen und die

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