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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Erwägung
 …«
    Ollie riss ihn ihr aus der Hand.
    »Jemand hat mir das
gegeben
. Er wollte meine Meinung wissen, ob ich das für eine solide Offerte halte.«
    »Ach, Ollie.«
    »Ich wusste nicht mal, dass ich's noch in der Tasche habe. Genau wie den Kaugummi.«
    »Staunst du denn nicht?«
    »Doch, natürlich. Ich hatt's vergessen.«
    »Staunst du nicht über Tessa? Was sie
gewusst
hat?«
    Ollie brachte ein Lächeln für Tessa zustande, obwohl er äußerst verlegen war. Sie konnte ja nichts dafür.
    »Alles nur Sachen, die viele in den Taschen haben«, sagte er. »Kleingeld? Selbstverständlich. Bleistift …«
    »Kaugummi?«, fragte Nancy.
    »Auch normal.«
    »Und der Zettel mit Gedrucktem. Sie hat gesagt, mit
Gedrucktem

    »Sie hat gesagt, ein Zettel. Sie hat nicht gewusst, was draufsteht. Nein, nicht wahr?«, sagte er zu Tessa.
    Die schüttelte den Kopf. Lauschend blickte sie zur Tür.
    »Ich glaube, ein Auto kommt.«
    Sie hatte recht. Jetzt hörten es alle. Nancy ging, um durch die Gardine zu spähen, und in diesem Augenblick schenkte Tessa ganz unerwartet Ollie ein Lächeln. Kein verschwörerisches oder entschuldigendes oder gar kokettes Lächeln. Vielleicht ein Lächeln der Gastfreundschaft, aber ohne jede ausdrückliche Einladung. Einfach ein Verstrahlen von Wärme, von wohlwollendem Gemüt. Und gleichzeitig regten sich ihre breiten Schultern, senkten sich friedlich, als breitete sich das Lächeln in ihrem ganzen Ich aus.
    »Ach, verflixt«, sagte Nancy. Aber sie musste ihre Erregung zügeln, wie Ollie sein verwirrtes Entzücken und Erstaunen.
    Tessa öffnete die Haustür gerade, als der Mann aus dem Auto stieg. Er wartete an der Gartenpforte, bis Nancy und Ollie den Weg dahin zurückgelegt hatten. Er war vermutlich über sechzig, hatte mächtige Schultern und ein ernstes Gesicht und trug einen hellen Sommeranzug und einen Strohhut. Sein Auto war eine Limousine neuerer Bauart. Er nickte Nancy und Ollie mit der knappen Höflichkeit und dem demonstrativen Mangel an Neugier zu, mit denen er ihnen auch die Tür einer Arztpraxis hätte aufhalten können.
    Tessas Haustür hatte sich noch nicht lange hinter ihm geschlossen, als ein weiteres Auto am anderen Ende des Weges auftauchte.
    »Andrang«, sagte Nancy. »Am Sonntagnachmittag ist viel los. Jedenfalls im Sommer. Die Leute kommen von meilenweit her, um sie zu sehen.«
    »Damit sie ihnen sagt, was sie in den Taschen haben?«
    Nancy ging darauf nicht ein.
    »Hauptsächlich, um sie nach verlorenen Dingen zu fragen. Wertvollen Dingen. Jedenfalls für die Leute wertvoll.«
    »Nimmt sie Geld dafür?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Muss sie doch.«
    »Warum muss sie?«
    »Ist sie nicht arm?«
    »Sie ist nicht am Verhungern.«
    »Vielleicht trifft sie es nicht sehr oft.«
    »Also ich denke, sie trifft es, sonst würden doch die Leute nicht mehr zu ihr kommen, oder?«
    Der Ton ihrer Unterhaltung veränderte sich, als sie zwischen den Rosensträuchern durch den hellen, windstillen Tunnel gingen. Sie wischten sich den Schweiß vom Gesicht und verloren die Kraft, gegeneinander zu sticheln.
    Ollie sagte: »Ich verstehe das nicht.«
    Nancy sagte: »Ich weiß nicht, ob irgendjemand es versteht. Es sind auch nicht nur Dinge, die Leute verloren haben. Sie hat Leichen aufgespürt.«
    »
Leichen?«
    »Da war ein Mann, von dem alle dachten, er wäre auf den Eisenbahngleisen losmarschiert und in einen Schneesturm geraten und erfroren, und sie konnten ihn nicht finden, und Tessa hat gesagt, schaut unten beim See nach, am Fuß der Steilküste. Und tatsächlich. Überhaupt nicht die Eisenbahngleise. Und einmal ist eine Kuh verschwunden, und sie hat ihnen gesagt, dass sie ertrunken ist.«
    »Ja, und?«, sagte Ollie. »Wenn das wahr ist, warum hat das noch niemand untersucht? Ich meine, wissenschaftlich?«
    »Es ist absolut wahr.«
    »Ich will damit nicht sagen, dass ich ihr nicht traue. Aber ich möchte wissen, wie sie es macht. Hast du sie nie gefragt?«
    Nancy überraschte ihn. »Wäre das nicht sehr unhöflich?«, sagte sie.
    Jetzt schien sie diejenige zu sein, die von dieser Unterhaltung genug hatte.
    »Ja, und«, beharrte er, »hat sie als Schulkind Dinge gesehen?«
    »Nein. Ich weiß es nicht. Jedenfalls hat sie nie was davon gesagt.«
    »War sie einfach wie alle anderen?«
    »Sie war nicht ganz wie alle anderen. Aber wer ist das schon? Ich meine, ich habe nie gedacht,
ich
sei wie alle anderen. Oder Ginny, die hat auch nicht gedacht,
sie
sei wie alle anderen. Bei Tessa war es

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