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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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länger sie darüber nachdachte, und wurde gleichzeitig immer unwirklicher, sodass sie es nie tat.

Ein Quadrat, ein Kreis, ein Stern
    An einem Spätsommertag Anfang der siebziger Jahre lief eine Frau durch Vancouver, eine Stadt, in der sie noch nie gewesen war und die sie, soweit sie wusste, auch nie wiedersehen würde. Sie war von ihrem Hotel in der City über die Burrard Street Bridge gegangen und befand sich nach einer Weile auf der Fourth Avenue. Zu jener Zeit war die Fourth Avenue beherrscht von kleinen Läden, die Räucherstäbchen, Kristallkugeln, große Papierblumen, Poster von Salvador Dalí und dem Weißen Kaninchen verkauften, auch billige Kleidung, entweder bunt und dünn oder erdfarben und schwer wie Wolldecken, hergestellt in armen und sagenumwobenen Teilen der Welt. Die Musik, die aus diesen Läden erscholl, attackierte einen – schien einen fast umzustoßen –, während man vorbeiging. Ebenso die süßlichen exotischen Gerüche und die träge Anwesenheit von Jungen und Mädchen, oder jungen Männern und Frauen, die sich praktisch auf dem Bürgersteig häuslich niedergelassen hatten. Die Frau hatte von dieser Jugendkultur, wie sie wohl genannt wurde, gehört und gelesen und wusste, dass sie schon seit einigen Jahren in Erscheinung getreten und jetzt angeblich im Rückgang begriffen war. Aber sie hatte sich noch nie den Weg durch solch eine geballte Ansammlung davon bahnen müssen oder sich, wie es schien, ganz allein inmitten davon befunden.
    Sie war siebenundsechzig Jahre alt, sie war so mager, dass ihre Hüften und ihr Busen praktisch verschwunden waren, und sie ging mit beherzten Schritten, den Kopf vorgereckt und in einer herausfordernden, forschenden Art hin- und herwendend.
    Weit und breit war niemand in Sicht, der auch nur halb so alt war wie sie.
    Ein Junge und ein Mädchen traten mit einer Feierlichkeit auf sie zu, die trotz allem etwas dümmlich wirkte. Sie trugen Kränze aus geflochtenen Bändern auf dem Kopf. Sie wollten, dass sie ihnen ein kleines Papierröllchen abkaufte.
    Sie fragte, ob es ihr Schicksal enthielt.
    »Vielleicht«, sagte das Mädchen.
    Der Junge sagte tadelnd: »Es enthält Weisheit.«
    »Oh, in dem Fall«, sagte Nancy und legte einen Dollar in eine dargehaltene bestickte Kappe.
    »Jetzt sagt mir eure Namen«, sagte sie mit einem Lächeln, das sie nicht unterdrücken konnte und das nicht erwidert wurde.
    »Adam und Eva«, sagte das Mädchen, als sie den Geldschein aus der Kappe nahm und in ihren Gewändern verstaute.
    »
Als Adam grub und Eva flehte
«, sagte Nancy. »
Beim Erzengel steigt eine Fete
 …«
    Aber das Paar entfernte sich, zutiefst angewidert.
    So viel dazu. Sie ging weiter.
    Gibt es ein Gesetz, das mir verbietet hier zu sein?
    Ein Wohnzimmer-Café hatte ein Schild im Schaufenster. Sie hatte seit dem Frühstück im Hotel nichts mehr gegessen. Es war inzwischen nach vier. Sie blieb stehen, um zu lesen, was da angepriesen wurde.
    Gesegnet sei das Gras
. Und hinter diesen krakeligen Wörtern war ein zornig blickendes, verrunzeltes, triefäugiges Wesen mit dünnen Haaren, die von Stirn und Wangen fortwehten. Trocken aussehende, bleiche, rötlichbraune Haare. Wählen Sie immer eine etwas hellere Farbe als Ihre eigene, hatte die Friseuse gesagt. Ihre eigene Farbe war dunkel, Dunkelbraun, fast Schwarz.
    Nein, falsch. Ihre eigene Farbe war jetzt Weiß.
    Es widerfährt einem nur wenige Male im Leben – zumindest einer Frau widerfährt es nur wenige Male–, dass man derart plötzlich, ohne jede Vorwarnung, sich selbst gegenübersteht. Es war so schlimm wie jene Träume, in denen sie auf der Straße spazierenging und feststellen musste, dass sie nichts am Leib hatte als ihr Nachthemd oder lässig nur das Oberteil ihres Schlafanzugs trug.
    Im Laufe der letzten zehn oder fünfzehn Jahre hatte sie sich gewiss Zeit dafür genommen, ihr eigenes Gesicht in grellem Licht zu betrachten, um besser sehen zu können, welches Make-up in Frage kam, oder zu entscheiden, ob es nun endgültig an der Zeit war, sich die Haare zu färben. Aber noch nie war ein solcher Ruck durch sie gefahren, noch nie hatte sie einen Augenblick erlebt, in dem sie nicht nur einige alte und neue Problemstellen oder einen Verfall sah, der sich nicht mehr ignorieren ließ, sondern eine völlig Fremde.
    Jemand, den sie nicht kannte und nicht kennenlernen mochte.
    Sie entspannte natürlich sofort ihren Gesichtsausdruck, was zu einer Verbesserung führte. Man könnte sagen, dass sie sich dann erkannte.

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