Tricks
Und unverzüglich begann sie, sich nach einem Hoffnungsschimmer umzutun, als dürfe sie keine Minute länger säumen. Sie musste ihre Haare einsprayen, damit sie ihr nicht so aus dem Gesicht wehten. Sie brauchte einen entschiedeneren Lippenstiftfarbton. Helle Koralle, was kaum noch aufzutreiben war, statt dieses fast nackte, modischere und öde rosastichige Braun. Entschlossenheit, sofort aufzutreiben, was sie brauchte, veranlasste sie umzukehren – sie hatte drei oder vier Querstraßen vorher einen Drugstore gesehen –, und der Wunsch, nicht wieder an Adam-undEva vorbeigehen zu müssen, veranlasste sie, auf die andere Straßenseite zu wechseln.
Wenn das nicht geschehen wäre, hätte die Begegnung nie stattgefunden.
Ein anderer alter Mensch kam ihr entgegen. Ein Mann, nicht groß, aber aufrecht und muskulös, kahl bis auf den Hinterkopf mit einem Kranz feiner, weißer Haare, die in alle Richtungen wehten. Ein am Hals offenes Denimhemd, ein altes Jackett und eine Tuchhose. Nichts, was danach aussah, als versuche er, den jungen Männern auf der Straße zu ähneln – kein Pferdeschwanz, kein Halstuch, keine Jeans. Und doch käme man nicht auf die Idee, ihn für einen Mann des Typs zu halten, wie er ihr im Laufe der letzten beiden Wochen täglich begegnet war.
Sie wusste es fast sofort. Es war Ollie. Aber sie blieb abrupt stehen, da sie beträchtlichen Grund zu der Annahme hatte, dass er es nicht sein konnte.
Ollie. Du lebst. Ollie.
Und er sagte: »Nancy!«
Auf ihrem Gesicht (nachdem sie ihr anfängliches Entsetzen überwunden hatte, was er nicht zu bemerken schien) musste sich so ziemlich dasselbe spiegeln wie auf seinem. Ungläubigkeit, Heiterkeit, Entschuldigung.
Weswegen die Entschuldigung? Wegen der Tatsache, dass sie nicht als Freunde geschieden waren, dass sie in all den Jahren nie miteinander in Verbindung getreten waren? Oder wegen der Veränderungen, die bei jedem von ihnen stattgefunden hatten, wegen der Gestalt, in der sie sich jetzt präsentieren mussten, ohne Pardon.
Nancy hatte gewiss mehr Grund als er, erschüttert zu sein. Aber sie wollte das nicht gleich zur Sprache bringen. Nicht, bevor sie beide die Fassung wiedergewonnen hatten.
»Ich bin nur über Nacht hier«, sagte sie. »Ich meine, gestern Nacht und heute Nacht. Ich war auf einer Kreuzfahrt nach Alaska. Mit all den anderen alten Witwen. Wilf ist nämlich tot. Er ist seit fast einem Jahr tot. Ich sterbe vor Hunger. Ich bin gelaufen und gelaufen. Ich weiß gar nicht recht, wie ich hierher gekommen bin.«
Und sie fügte, reichlich töricht, hinzu: »Ich wusste gar nicht, dass du hier lebst.« Weil sie nicht angenommen hatte, dass er irgendwo lebte. Aber sie war sich auch nicht völlig sicher gewesen, dass er tot war. Soweit sie in Erfahrung bringen konnte, hatte Wilf keine Nachricht dieser Art erhalten. Obwohl sie aus Wilf nicht viel herausbekommen hatte, er war außer Reichweite geglitten, in der kurzen Zeit, in der sie diese Spritztour nach Michigan unternommen hatte, um Tessa zu besuchen.
Ollie sagte, dass er nicht in Vancouver wohnte, auch er war nur kurz in der Stadt. Er war für eine medizinische Angelegenheit im Krankenhaus hergekommen, nur eine Routineangelegenheit. Er lebte auf Texada Island. Wo das war, sagte er, war zu kompliziert, um es zu erklären. Nur so viel: Man brauchte drei Schiffe, drei Fähren, um dorthin zu gelangen.
Er führte sie zu einem schmutzigen weißen Volkswagenbus, der in einer Seitenstraße abgestellt war, und sie fuhren zu einem Restaurant. Der Bus roch nach dem Meer, dachte sie, nach Tang und Fisch und Gummi. Und wie sich herausstellte, aß er jetzt nur noch Fisch, nie Fleisch. Das Restaurant, in dem nicht mehr als ein halbes Dutzend kleine Tische standen, war japanisch. Ein japanischer Junge mit dem demütig gesenkten Gesicht eines Priesters hackte hinter dem Tresen mit erschreckender Geschwindigkeit Fisch. Ollie rief aus: »Wie läuft's, Pete?«, und der junge Mann rief mit spöttischem nordamerikanischen Tonfall zurück: »Phan-tas-tisch«, ohne im Geringsten aus dem Rhythmus zu kommen. Nancy hatte eine Aufwallung von Unbehagen – weil Ollie den Namen des jungen Mannes benutzt hatte und der junge Mann den von Ollie nicht? Und weil sie hoffte, Ollie würde nicht merken, dass sie es gemerkt hatte? Manche Menschen – manche Männer – legten großen Wert darauf, mit Leuten in Läden und Restaurants befreundet zu sein.
Sie konnte die Vorstellung von rohem Fisch nicht ertragen, also bestellte sie
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