Tricks
gewöhnte. Er war nicht mehr so spitz – nein, er überraschte sie nicht mehr. Und in ihr hatte sich jetzt eine nahezu verführerische Vorstellung breitgemacht, eine ständig lauernde Versuchung.
Sie brauchte nur hochzuschauen, in eine bestimmte Richtung, um zu wissen, wohin sie gehen konnte. Ein Abendspaziergang, nachdem die Arbeit des Tages getan war. Zum Waldrand und dem kahlen Baum, wo die Geier ihr Fest gefeiert hatten.
Und dann die kleinen, schmutzigen Knochen im Gras. Der Schädel, an dem vielleicht noch ein paar blutige Hautfetzen klebten. Ein Schädel, den sie wie eine Teetasse in einer Hand halten konnte. Wissen in einer Hand.
Oder vielleicht auch nicht. Nichts da.
Es konnte ganz anders vor sich gegangen sein. Er konnte Flora fortgejagt haben. Oder sie im Lieferwagen festgebunden haben und ein Stück weit gefahren sein und sie ausgesetzt haben. Sie dorthin zurückgebracht haben, wo er sie hergeholt hatte. Damit sie fort war und beide nicht immer wieder an alles erinnerte.
Vielleicht war sie frei.
Die Tage verstrichen, und Carla ging nicht zu der Stelle. Sie widerstand der Versuchung.
Entscheidung
Mitte Juni 1965 ist das Schuljahr in Torrance House zu Ende. Juliet hat keine feste Stelle angeboten bekommen – die Lehrerin, für die sie eingesprungen ist, ist wieder gesund – und könnte jetzt auf dem Heimweg sein. Aber sie macht, wie sie es genannt hat, einen kleinen Umweg. Einen kleinen Umweg, um einen Freund zu besuchen, der weiter oben an der Küste wohnt.
Ungefähr vor einem Monat ging sie mit einer anderen Lehrerin zusammen – mit Juanita, der einzigen im Kollegium etwa in ihrem Alter und ihre einzige Freundin – ins Kino, um einen alten Film,
Hiroshima – mon amour
, zu sehen. Juanita gestand hinterher, dass auch sie, wie die Frau im Film, einen verheirateten Mann liebe – den Vater einer Schülerin. Juliet sagte darauf, dass sie sich in einer ähnlichen Situation befunden habe, sich aber dann wegen des tragischen Schicksals seiner Frau zurückgezogen habe. Seine Frau war ein Pflegefall, mehr oder weniger gehirntot. Juanita sagte, sie wünschte, die Frau ihres Geliebten wäre gehirntot, sie sei es aber nicht – sondern energisch und einflussreich und könne dafür sorgen, dass Juanita rausflöge.
Und kurz danach, wie von solchen unwürdigen Lügen oder Halbwahrheiten heraufbeschworen, kam ein Brief. Der Umschlag sah verschmuddelt aus, als hätte er einige Zeit in einer Tasche zugebracht, und adressiert war er nur an »Juliet (Lehrerin), Torrance House, 1482 Mark St., Vancouver, B.C.«. Die Schulleiterin übergab ihn Juliet mit den Worten: »Ich nehme an, der ist für Sie. Merkwürdig, dass kein Familienname draufsteht, aber die Adresse stimmt. Na ja, die kann man nachschlagen.«
Liebe Juliet,
ich hatte vergessen, an welcher Schule Du unterrichtest, aber neulich ist es mir wieder eingefallen, ganz plötzlich, und da dachte ich, das ist ein Zeichen, Dir zu schreiben. Ich hoffe, Du bist noch dort, aber die Arbeit müsste schon ziemlich schrecklich sein, damit Du vor Ablauf des Schuljahres aufhörst, denn Du kamst mir nicht wie jemand vor, der leicht aufgibt.
Wie gefällt Dir unser Westküstenwetter? Wenn Du denkst, ihr kriegt in Vancouver eine Menge Regen, dann stell Dir doppelt so viel vor, das kriegen wir nämlich hier oben.
Ich denke oft an Dich, wie Du dasitzt und zu den Staren Sternen hochschaust. Du siehst, ich habe Stare geschrieben, es ist schon spät nachts und Zeit für mich, ins Bett zu gehen.
Ann ist ziemlich unverändert. Als ich von meiner Reise zurückkam, dachte ich, dass sie doch ein ganzes Stück schwächer geworden ist, aber das lag hauptsächlich daran, dass ich plötzlich sehen konnte, wie weit es mit ihr in den letzten zwei oder drei Jahren bergab gegangen ist. Vorher ist mir das nicht aufgefallen, weil ich sie jeden Tag gesehen habe.
Ich glaube, ich habe Dir gar nicht erzählt, dass ich in Regina Zwischenstation gemacht habe, um meinen Sohn zu besuchen, der jetzt elf Jahre alt ist. Er lebt dort bei seiner Mutter. Ich habe auch an ihm große Veränderungen wahrgenommen.
Ich bin froh, dass mir endlich der Name der Schule eingefallen ist, aber ich fürchte, ich kann mich nicht an Deinen Familiennamen erinnern. Trotzdem werde ich den Brief zukleben, hoffentlich fällt mir der Name noch ein.
Ich denke oft an Dich.
Ich denke oft an Dich
Ich denke oft an Dich … schnarch
*
Der Bus bringt Juliet aus der Innenstadt von Vancouver zur Horseshoe Bay und dann auf
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