Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
Vom Netzwerk:
eine Fähre. Dann über eine Halbinsel und auf eine andere Fähre und wieder auf das Festland und so zu dem Städtchen, in dem der Mann wohnt, der den Brief geschrieben hat. Whale Bay. Und wie schnell gelangt man – sogar noch vor der Horseshoe Bay – von der Großstadt in die Wildnis. Das ganze Schuljahr über hat sie inmitten der Rasenflächen und Gärten von Kerrisdale gewohnt, mit den Bergen am Nordufer im Hintergrund, die immer, wenn das Wetter aufklarte, in Sicht kamen wie eine Theaterkulisse. Das Gelände der Schule war geschützt und gepflegt, von einer Mauer umgeben, und zu jeder Jahreszeit stand etwas in Blüte. Und die Grundstücke ringsherum waren nicht anders. Zurechtgestutzte Fülle – Rhododendren, Ilex, Kalmien und Wistarien. Aber schon, bevor man auch nur Horseshoe Bay erreicht, ist man mitten im Wald, richtiger Wald, keine Parkanlage. Und von da an: Wasser und Felsen, dunkle Bäume, herabhängende Bartflechten. Hin und wieder ein Rauchfaden aus einem nassen, halb verfallenen Häuschen, mit einem Hof, auf dem sich Brennholz stapelt, Nutzholz und Autoreifen, Autos und Autoteile, kaputte und benutzbare Fahrräder, Spielzeug, all das, was draußen bleiben muss, wenn den Bewohnern Garagen oder Kellerräume fehlen.
    Die Kleinstädte, in denen der Bus hält, haben überhaupt kein Stadtbild. An einigen Stellen sind ein paar Häuser gleichen Musters – Werkshäuschen – dicht nebeneinander errichtet worden, aber die meisten Häuser sind wie die in den Wäldern, jedes auf seinem eigenen vollgestopften großen Hof, als seien sie nur zufällig in Sichtweite voneinander erbaut worden. Keine befestigten Straßen außer der Fernstraße, die hindurchführt, keine Bürgersteige. Keine großen, soliden Gebäude, um Postämter oder Stadtverwaltungen zu beherbergen, keine dekorativen Häuserfronten mit Läden und Geschäften, errichtet, um wahrgenommen zu werden. Keine Kriegerdenkmäler, keine Trinkbrunnen, keine kleinen Parks mit Blumenrabatten. Manchmal ein Hotel, das aussieht, als sei es nur ein Wirtshaus. Manchmal eine moderne Schule oder ein modernes Krankenhaus – passabel, aber eingeschossig und schlicht wie ein Schuppen.
    Und irgendwann – merklich auf der zweiten Fähre – kamen ihr Übelkeit erregende Zweifel an der ganzen Sache.
    Ich denke oft an dich
    Ich denke an dich
    Das ist nur etwas, dahingesagt, um Trost zu spenden, oder aus einem leisen Verlangen, jemanden nicht ganz gehen zu lassen.
    Aber es muss in Whale Bay ein Hotel geben oder zumindest Blockhütten für Touristen. Dorthin wird sie gehen. Sie hat ihren großen Koffer in der Schule gelassen, um ihn später abzuholen. Sie trägt nur ihre Reisetasche über der Schulter, sie wird nicht auffallen. Sie wird nur eine Nacht bleiben. Ihn vielleicht anrufen.
    Und was sagen?
    Dass sie zufällig hier oben ist, um eine Freundin zu besuchen. Ihre Freundin Juanita, aus der Schule, die ein Sommerhäuschen hat – wo? Juanita hat eine Blockhütte im Wald, sie ist eine furchtlose Frau mit einer Vorliebe für die freie Natur (ganz im Gegensatz zur echten Juanita, die selten ohne hohe Absätze anzutreffen ist). Und wie es der Zufall will, liegt die Blockhütte gar nicht weit von Whale Bay. Und da ihr Besuch in der Blockhütte bei Juanita vorbei ist, hat Juliet gedacht – hat sie gedacht – da sie schon fast da sei – hat sie gedacht, kann sie ja mal …
    *
    Felsen, Bäume, Wasser, Schnee. Diese Bestandteile, in ständig wechselnder Anordnung, bildeten vor sechs Monaten die Landschaft, draußen vor dem Zugfenster an einem Morgen zwischen Weihnachten und Silvester. Die Felsen waren groß, manchmal zerklüftet, manchmal glatt wie Findlinge, dunkelgrau oder völlig schwarz. Die Bäume waren hauptsächlich Nadelbäume, Kiefern oder Fichten oder Zedern. Die Fichten – Schwarzfichten – trugen auf ihren Wipfeln Gebilde, die wie kleine Bäumchen aussahen, Miniaturausgaben von sich selbst. Die Laubbäume waren dürr und kahl – sie konnten Pappeln oder Lärchen oder Erlen sein. Einige davon hatten fleckige Stämme. Schnee saß in dicken Mützen auf den Felsen und klebte in Kissen an der Windseite der Bäume. Er lag als weiche, glatte Decke auf den vielen großen oder kleinen zugefrorenen Seen. Wasser, das nicht zu Eis gefroren war, floss nur hin und wieder in einem schnellen, dunklen und schmalen Bach.
    Juliet hatte ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß, aber sie las nicht. Sie wandte den Blick nicht von dem, was vorüberzog. Sie saß allein auf einem

Weitere Kostenlose Bücher