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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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kam die gleiche Anleitung von ihren Lehrern, die doch allem Anschein nach so viel von ihr hielten und solche Freude an ihr hatten. Die fröhliche Zuversicht ihrer Ratschläge konnte nicht über ihre Besorgnis hinwegtäuschen. Sie müssen in die Welt hinaus, hatten sie gesagt. Als wäre sie bisher im Nirgendwo gewesen.
    Trotzdem war sie in dem Zug glücklich.
    Taiga
, dachte sie. Sie wusste nicht, ob dies für das, was sie sah, das richtige Wort war. Vielleicht bildete sie sich bis zu einem gewissen Grade ein, eine junge Frau in einem russischen Roman zu sein, die hinausfuhr in eine fremde, Angst einflößende, erquickende Landschaft, wo nachts die Wölfe heulten und wo sie ihrem Schicksal begegnen würde. Es machte ihr nichts aus, dass dieses Schicksal – in einem russischen Roman – sich höchstwahrscheinlich als trist oder tragisch oder beides erweisen würde.
    Es ging ihr sowieso nicht um persönliches Schicksal. Was sie anzog – ja sogar entzückte –, das war gerade die Gleichgültigkeit, die Wiederholung, die Achtlosigkeit gegenüber jeglicher Harmonie, die auf der wirren Oberfläche des Präkambrischen Schildes zu Tage tritt.
    Ein Schatten erschien am Rande ihres Blickfeldes. Dann ein behostes Bein, das hereinkam.
    »Ist dieser Platz besetzt?«
    Natürlich war er es nicht. Was sollte sie sagen?
    Slipper mit kleinen Bommeln, beigefarbene sportliche Hose, beige und braun kariertes Jackett mit kastanienbraunen Nadelstreifen, dunkelblaues Hemd, kastanienbrauner Schlips mit blauen und goldenen Tupfen. Alles nagelneu und alles – bis auf die Schuhe – ein wenig zu groß, als sei der Körper darin seit dem Kauf eingeschrumpft.
    Er war ein Mann Mitte fünfzig, helle, goldbraune Haarsträhnen waren über die Glatze gekleistert. (Sie konnten nicht gefärbt sein, oder? Wer würde so spärliches Haupthaar färben?) Seine Augenbrauen waren dunkler, rötlich, spitzwinklig und buschig. Seine Gesichtshaut war ledrig, verdickt wie die Oberfläche saurer Milch.
    War er hässlich? Ja, natürlich. Er war hässlich, aber das waren ihrer Meinung nach die allermeisten Männer in seinem Alter. Sie hätte hinterher nicht gesagt, dass er auffallend hässlich war.
    Seine Augenbrauen hoben sich, seine hellen, wässerigen Augen weiteten sich wie im Bemühen um Geselligkeit. Er ließ sich ihr gegenüber nieder. Er sagte: »Nicht viel zu sehen da draußen.«
    »Nein.« Sie senkte den Blick zu ihrem Buch.
    »Ah«, sagte er, als ließen sich die Dinge gut an. »Und bis wohin fahren Sie?«
    »Bis Vancouver.«
    »Ich auch. Quer durchs ganze Land. Soll man sich ruhig alles ansehen, wenn man schon mal dabei ist, hab ich recht?«
    »Mhm.«
    Aber er ließ nicht locker.
    »Sind Sie auch in Toronto zugestiegen?«
    »Ja.«
    »Das ist mein Zuhause, Toronto. Da habe ich mein ganzes Leben verbracht. Sind Sie auch da zu Hause?«
    »Nein«, sagte Juliet, schaute wieder in ihr Buch und gab sich große Mühe, die Pause zu verlängern. Aber etwas – ihre Erziehung, ihre Verlegenheit, vielleicht auch ihr Mitleid – war zu stark für sie, und sie verriet ihm den Namen ihrer Heimatstadt, verortete sie dann für ihn und nannte die Entfernungen zu verschiedenen größeren Städten, ihre Lage im Bezug zum Lake Huron und zur Georgian Bay.
    »Ich habe eine Cousine in Collingwood. Hübsche Gegend da oben. Ich war ein paar Mal da und hab sie und ihre Familie besucht. Reisen Sie allein? Wie ich?«
    Er legte immer wieder eine Hand auf die andere.
    »Ja.« Schluss jetzt, denkt sie. Schluss jetzt.
    »Das ist das erste Mal, dass ich eine größere Reise irgendwohin unternehme. Und was für eine Reise, so ganz allein.«
    Juliet sagte nichts.
    »Ich habe Sie gerade so für sich Ihr Buch lesen sehen, und ich habe gedacht, vielleicht ist sie auch allein und hat noch eine weite Fahrt vor sich, also vielleicht können wir uns ja irgendwie zusammentun?«
    Bei diesem Wort,
zusammentun
, stieg in Juliet eine kalte Wallung auf. Sie verstand, dass er nicht versuchte, mit ihr anzubandeln. Eine der demoralisierenden Erfahrungen, die sie manchmal machte, war, dass ziemlich linkische und einsame und unattraktive Männer ihr ein eindeutiges Angebot machten und dabei durchblicken ließen, Juliet müsse im gleichen Boot sitzen wie sie. Aber das tat er nicht. Er wollte eine Bekanntschaft, keine Liebschaft. Er wollte Anschluss.
    Juliet wusste, dass sie in den Augen vieler Menschen eine einzelgängerische Außenseiterin war – und in gewisser Weise war sie das auch. Aber sie hatte

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