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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Doppelsitz, gegenüber einem leeren Doppelsitz. Nachts wurde daraus ihr Bett gemacht. Der Schaffner war gerade am Werk in ihrem Schlafwagen, verwandelte Liegen wieder in Sitzplätze. An einigen Stellen hingen noch die dunkelgrünen, mit Reißverschlüssen zugezogenen Vorhänge herunter. Es roch nach diesen Vorhängen, wie nach Zeltbahnen, und vielleicht auch ein wenig nach Schlafanzügen und Toiletten. Ein Schwall frischer Winterluft, wenn jemand die Türen am Ende des Waggons öffnete. Die letzten Fahrgäste gingen zum Frühstück, andere kamen zurück.
    Im Schnee waren Spuren zu sehen, Spuren von kleinen Tieren. Perlenketten, verschlungen, sich verlierend.
    Juliet war einundzwanzig Jahre alt und schon Inhaberin eines B.A. und eines M.A. in Altphilologie. Sie arbeitete an ihrer Doktorarbeit, hatte sich aber eine Auszeit genommen, um an einer privaten Mädchenschule in Vancouver Latein zu unterrichten. Sie hatte keine Ausbildung zur Lehrerin, aber ein unerwarteter Ausfall mitten im Schuljahr hatte die Schule bewogen, sie einzustellen. Wahrscheinlich hatte sich niemand sonst auf die Anzeige hin gemeldet. Das Gehalt war niedriger, als es jeder qualifizierte Lehrer akzeptiert hätte. Aber Juliet war glücklich, überhaupt etwas Geld zu verdienen, nachdem sie jahrelang von kargen Stipendien gelebt hatte.
    Sie war ein hochgewachsenes Mädchen, hellhäutig und zartknochig, mit nussbraunen Haaren, die sich auch mit Hilfe von Haarspray nicht auftoupieren ließen. Sie wirkte wie ein aufgewecktes Schulmädchen. Hoch erhobener Kopf, breiter schmallippiger Mund, Stupsnase, helle Augen und eine Stirn, die vor Anstrengung oder Begeisterung oft rot wurde. Ihre Professoren waren von ihr entzückt – sie waren in diesen Zeiten dankbar für jeden, der klassische Sprachen studierte, und besonders für jemanden mit so viel Begabung –, aber sie machten sich auch Sorgen. Das Problem war, sie war ein Mädchen. Wenn sie heiratete – was durchaus geschehen konnte, da sie für ein Mädchen, das auf Stipendien angewiesen war, nicht übel aussah, ganz und gar nicht übel –, dann würde sie all die harte Arbeit drangeben, ihre eigene und die ihrer Professoren, und wenn sie nicht heiratete, würde sie wahrscheinlich eine verbitterte Einzelgängerin werden, die bei Beförderungen stets das Nachsehen gegenüber Männern hatte (die dringend darauf angewiesen waren, da sie Familien ernähren mussten). Und sie würde nicht fähig sein, die Ausgefallenheit ihrer Fächerwahl zu verteidigen oder sich damit abzufinden, dass Altphilologie als verstaubt und belanglos galt, oder gar diesen Vorurteilen so unbekümmert entgegenzutreten, wie ein Mann es konnte. Eine ausgefallene Fächerwahl brachte eben für einen Mann wesentlich weniger Schwierigkeiten mit sich, und er hatte gute Aussicht, eine Frau zu finden, die froh war, ihn zu heiraten. Nicht so im umgekehrten Fall.
    Als das Stellenangebot kam, drängten ihre Professoren sie, es anzunehmen. Wird Ihnen guttun, ein bisschen in die Welt hinauszukommen. Ins wahre Leben.
    Juliet war solche Ratschläge gewohnt, es enttäuschte sie jedoch, sie von diesen Männern zu hören, die nicht so aussahen und sich nicht so anhörten, als hätten sie sich selbst gründlich in der wahren Welt umgetan. In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, wurde ihre Art von Intelligenz in dieselbe Kategorie gesteckt wie ein lahmes Bein oder ein zusätzlicher Daumen, und alle Nachbarn waren immer schnell damit bei der Hand, auf die unvermeidlichen Nachteile hinzuweisen – ihre Unfähigkeit, mit einer Nähmaschine umzugehen oder ein Paket ordentlich zu verschnüren oder zu merken, dass ihr Unterrock hervorguckte. Was sollte nur aus ihr werden, war die Frage.
    Eine Frage, die sich sogar ihre Mutter und ihr Vater stellten, die stolz auf sie waren. Ihre Mutter wollte, dass sie beliebt war, und hatte sie zu diesem Zweck gedrängt, das Schlittschuhlaufen und das Klavierspielen zu erlernen. Sie tat beides weder gern noch gut. Ihr Vater wollte nur, dass sie hineinpasste. Du musst hineinpassen, sagte er ihr immer, sonst wird man dir das Leben zur Hölle machen. (Dabei verschwieg er die Tatsache, dass er und namentlich Juliets Mutter selbst nicht sonderlich gut hineinpassten und keineswegs unglücklich waren. Vielleicht bezweifelte er, dass Juliet ebensolches Glück haben konnte.)
    Das tue ich, sagte Juliet, als sie schließlich auf dem College war. In die Altphilologische Abteilung passe ich hinein. Alles ist bestens.
    Aber jetzt

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