Tricks
sein Blick auf eine Spiegelung im Fenster, und er fuhr herum.
Nicht weit vom Haus befand sich eine leichte Senke, die sich in dieser Jahreszeit nachts oft mit Nebel füllte. Der Nebel war auch heute Nacht da, war die ganze Zeit über dagewesen. Aber jetzt ging eine Veränderung vor sich. Der Nebel hatte sich verdichtet, Gestalt angenommen, sich in etwas Stacheliges und Strahlendes verwandelt. Anfangs eine große, vorwärts purzelnde Pusteblumenkugel, verdichtete er sich zu einem unirdischen Lebewesen, rein weiß, in vollem Galopp, etwas wie ein riesiges Einhorn, das auf sie zu stürzte.
»Großer Gott«, sagte Clark leise und andächtig. Und packte Sylvia bei der Schulter. Diese Berührung ängstigte sie überhaupt nicht – sie nahm sie in dem Wissen hin, dass er sie anfasste, um entweder sie oder sich selbst zu beruhigen.
Dann explodierte das Schreckbild. Aus dem Nebel und aus dem vergrößernden Licht – das, wie jetzt zu sehen war, von den Scheinwerfern eines Autos kam, das wahrscheinlich auf dem Feldweg einen Platz zum Parken suchte – erschien eine weiße Ziege. Eine kleine tanzende weiße Ziege, kaum größer als ein Schäferhund.
Clark ließ Sylvia los. Er sagte: »Wo zum Teufel kommst du denn her?«
»Es ist Ihre Ziege«, sagte Sylvia. »Ist das nicht Ihre Ziege?«
»Flora«, sagte er. »Flora.«
Die Ziege war ungefähr einen Meter vor ihnen stehen geblieben, plötzlich scheu, und ließ den Kopf hängen.
»Flora«, sagte Clark. »Wo zum Teufel kommst du her? Du hast uns ja einen Heidenschreck eingejagt.«
Uns
.
Flora kam näher, hob aber immer noch nicht den Kopf. Sie stupste Clarks Beine mit den Hörnern.
»Du verdammtes blödes Vieh«, sagte er mit zittriger Stimme. »Wo kommst du bloß her?«
»Sie hat sich verirrt«, sagte Sylvia.
»Ja. Hat sie. Hab nicht gedacht, dass wir sie je wiedersehen würden.«
Flora hob den Kopf. Ihre Augen blitzten im Mondlicht auf.
»Hast uns einen Heidenschreck eingejagt«, sagte Clark zu ihr. »Warst du weg, um dir einen Mann zu suchen? Einen Heidenschreck. Was? Wir dachten, du wärst ein Gespenst.«
»Das lag am Nebel«, sagte Sylvia. Sie trat jetzt aus der Tür, auf die Terrasse. In Sicherheit.
»Ja.«
»Dann die Autoscheinwerfer.«
»Wie eine Geistererscheinung«, sagte er ruhiger. Und zufrieden, dass ihm diese Beschreibung eingefallen war.
»Ja.«
»Die Ziege aus dem Weltraum. Das bist du. Du bist die verdammte Ziege aus dem Weltraum«, sagte er und streichelte Flora. Aber als Sylvia ihre freie Hand ausstreckte, um dasselbe zu tun – in der anderen Hand hielt sie immer noch die Tüte mit den Kleidungsstücken, die Carla getragen hatte –, senkte Flora sofort den Kopf, als wolle sie gleich ernsthaft mit den Hörnern zustoßen.
»Ziegen sind unberechenbar«, sagte Clark. »Man denkt, sie sind zahm, aber sie sind es nicht wirklich. Nicht, sobald sie erwachsen sind.«
»Ist sie schon erwachsen? Sie sieht so klein aus.«
»Sie ist so groß, wie sie je werden wird.«
Sie standen nebeneinander und blickten auf die Ziege hinunter, als erwarteten sie von ihr weiteren Gesprächsstoff. Aber sie gab offenbar keinen mehr her. Von diesem Augenblick an konnten beide weder vor noch zurück. Sylvia meinte, einen Anflug von Bedauern, dass es so war, kurz auf seinem Gesicht zu sehen.
Doch er erkannte es an. Er sagte: »Es ist schon spät.«
»Wohl wahr«, sagte Sylvia, als wäre das ein ganz normaler Besuch gewesen.
»Okay, Flora. Es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen.«
»Ich schaue mich anderweitig nach Hilfe um, wenn ich welche brauche«, sagte sie. »Wahrscheinlich brauche ich jetzt gar keine mehr.« Fast mit einem Lachen fügte sie hinzu: »Ich werde Ihnen nicht mehr in die Quere kommen.«
»Klar«, sagte er. »Gehen Sie lieber rein. Sonst erkälten Sie sich noch.«
»Früher hielt man Nebel bei Nacht für gefährlich.«
»Das ist mir neu.«
»Dann gute Nacht«, sagte sie. »Gute Nacht, Flora.«
Da klingelte das Telefon.
»Entschuldigen Sie mich.«
Er hob die Hand und wandte sich ab. »Gute Nacht.«
Es war Ruth, die anrief.
»Ach«, sagte Sylvia. »Ein Sinneswandel.«
*
Sie konnte nicht schlafen und musste an die kleine Ziege denken, deren Erscheinen aus dem Nebel ihr mehr und mehr wie ein Wunder vorkam. Sie überlegte sogar, ob Leon vielleicht etwas damit zu tun gehabt hatte. Wenn sie eine Dichterin wäre, würde sie über so etwas ein Gedicht schreiben. Aber ihrer Erfahrung nach hatten die Themen, die sich ihrer Meinung nach für ein
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