Tricks
irgendwo auf, schließlich hatte sie ihn schon einmal gelesen. Alle paar Seiten schien sie damals die Unterstreichungswut gepackt zu haben. Diese Passagen weckten ihre Aufmerksamkeit, aber beim erneuten Lesen stellte sie fest, dass die Stellen, auf die sie sich beim ersten Mal mit solcher Genugtuung gestürzt hatte, jetzt für sie unklar und verwirrend waren.
… was in der begrenzten Sehweise der Lebenden das Werk eines bösen Dämons zu sein scheint, wird von der größeren Einsicht der Toten als eine Erscheinungsform kosmischer Gerechtigkeit wahrgenommen …
Das Buch glitt ihr aus den Händen, die Augen fielen ihr zu, und sie spazierte jetzt mit Kindern (Schülern?) über einen zugefrorenen See. Bei jedem Schritt, den sie taten, bildete sich ein fünfseitiger Riss, jeder Riss wunderbar regelmäßig, sodass die Eisdecke schließlich aussah wie ein gefliester Fußboden. Die Kinder fragten, wie diese Eisfliesen hießen, und sie antwortete voll Überzeugung,
jambische Pentameter
. Aber die Kinder lachten, und unter diesem Gelächter weiteten sich die Risse. Da erkannte sie ihren Fehler und wusste, dass nur das richtige Wort aus der Not helfen konnte, aber es wollte ihr nicht einfallen.
Sie wachte auf und sah, dass eben der Mann, den sie auf dem Gang zwischen den Waggons behelligt hatte, ihr gegenübersaß.
»Sie haben geschlafen.« Er belächelte kurz seine Worte. »Offensichtlich.«
Sie hatte mit vornüber hängendem Kopf geschlafen, wie eine alte Frau, und in ihrem Mundwinkel war eine Speichelspur. Sie wusste auch, dass sie sofort zur Damentoilette gehen musste, hoffentlich ohne Fleck im Rock. Sie sagte: »Entschuldigen Sie mich«, (genau das, was er als Letztes zu ihr gesagt hatte), nahm ihre Tasche und entfernte sich so unbeeilt und unbeschämt, wie sie nur konnte.
Als sie zurückkam, sauber, ordentlich und erfrischt, war er immer noch da.
Er fing sofort an zu reden. Er sagte, er wolle sie um Verzeihung bitten.
»Mir ist klar geworden, dass ich sehr unhöflich zu Ihnen war. Als Sie mich gefragt haben …«
»Ja«, sagte sie.
»Sie hatten recht«, sagte er. »Wie Sie ihn beschrieben haben.«
Dies schien von seiner Seite aus weniger ein Angebot zu sein als ein knapper und notwendiger Abschluss. Wenn sie darauf nichts erwidern mochte, konnte es sein, dass er einfach aufstand und wegging, nicht besonders enttäuscht, denn das, wofür er hergekommen war, hatte er getan.
Beschämenderweise schossen Juliet Tränen in die Augen. Es geschah so unerwartet, dass ihr keine Zeit blieb wegzuschauen.
»Macht nichts«, sagte er. »Macht doch nichts.«
Sie nickte rasch, mehrmals hintereinander, schniefte jämmerlich, fand schließlich in ihrer Handtasche ein Papiertaschentuch und putzte sich die Nase.
»Es geht schon«, sagte sie, und dann erzählte sie ihm ohne Schnörkel, was passiert war. Dass der Mann sich vorgebeugt und sie gefragt hatte, ob der Platz besetzt sei, dass er sich hingesetzt hatte, dass sie aus dem Fenster geschaut hatte, bis sie nicht mehr mochte, also hatte sie versucht oder vorgegeben, ihr Buch zu lesen, dass er sie gefragt hatte, wo sie in den Zug eingestiegen war, und herausgefunden hatte, wo sie zu Hause war, und immer wieder versucht hatte, das Gespräch in Gang zu bringen, bis sie einfach aufstand und ihn verließ.
Das Einzige, was sie ihm nicht gestand, war der Ausdruck
zusammentun
. Sie befürchtete, wenn sie den aussprach, würde sie wieder in Tränen ausbrechen.
»Die Leute stören eher Frauen«, sagte er. »Ist leichter als bei Männern.«
»Ja. Das stimmt.«
»Sie meinen, Frauen sind zwangsläufig netter.«
»Aber er wollte nur jemanden, mit dem er reden konnte«, sagte sie, ein wenig die Seiten wechselnd. »Er wollte jemanden dringender, als ich jemanden
nicht
wollte. Das ist mir jetzt klar. Und ich sehe nicht böse aus. Ich sehe nicht grausam aus. Aber ich war es.«
Eine Pause, während der sie noch einmal ihr Schniefen und ihre überlaufenden Augen unter Kontrolle brachte.
Er sagte: »Haben Sie das noch nie gegenüber jemand anders tun wollen?«
»Doch! Aber ich habe es noch nie getan. Ich bin noch nie so weit gegangen. Und warum ich es diesmal getan habe – wohl weil er so harmlos war. Und er hatte völlig neue Sachen an, die er sich wahrscheinlich für die Reise gekauft hatte. Er war womöglich depressiv und dachte, er macht eine Reise, das ist eine gute Möglichkeit, Leute kennenzulernen und sich mit jemandem anzufreunden.
Vielleicht, wenn er nur eine kurze Strecke
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