Tricks
sie, dass die Türen aufgingen. Juliet hatte keine Zeit, Fragen zu stellen, aber im Vorbeigehen hörte sie, dass es ein Bär oder ein Elch oder eine Kuh gewesen sein konnte. Und es wurde hin- und herüberlegt, was eine Kuh hier oben in der Wildnis zu suchen hatte, oder warum die Bären jetzt nicht alle Winterschlaf hielten, oder ob ein Betrunkener auf den Gleisen eingeschlafen war.
Im Speisewagen saßen Reisende an Tischen, deren weiße Tischdecken entfernt worden waren. Sie tranken den Gratiskaffee.
Niemand saß auf Juliets Platz oder auf dem Platz gegenüber. Sie nahm ihre Reisetasche und eilte zur Damentoilette. Monatsblutungen waren der Fluch ihres Lebens. Sie hatten gelegentlich sogar wichtige dreistündige Klausuren beeinträchtigt, weil es verboten war, den Raum zu verlassen.
Sie hatte Bauchschmerzen, ihr war schwindlig und ein wenig übel. Erhitzt sank sie auf den Toilettensitz, entfernte die vollgesogene Binde, wickelte sie in Toilettenpapier ein und tat sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Dann stand sie auf und befestigte eine frische Binde aus ihrer Reisetasche. Sie sah ins Toilettenbecken, das Wasser und der Urin darin waren rot von ihrem Blut. Sie legte die Hand auf den Spülknopf, bemerkte aber das Warnschildchen, die Spülung nicht zu betätigen, während der Zug stand. Das bedeutete natürlich, wenn der Zug im Bahnhof stand und die Entleerung dort stattfand, wo andere Leute sie unangenehmerweise sehen konnten. Hier konnte sie es riskieren.
Aber gerade, als sie wieder den Knopf berührte, hörte sie ganz in der Nähe Stimmen, nicht im Zug, sondern draußen vor dem Toilettenfenster aus genarbtem Glas. Vielleicht Gleisarbeiter, die vorbeigingen.
Sie konnte in der Toilette bleiben, bis der Zug wieder fuhr, aber wie lange würde das dauern? Und was, wenn jemand dringend hereinwollte? Sie beschloss, dass sie nichts weiter tun konnte als den Deckel zu schließen und die Toilette zu verlassen.
Sie kehrte an ihren Platz zurück. Ihr gegenüber ratschte ein kleiner Junge von vier oder fünf Jahren mit einem Buntstift über die Seiten eines Malbuches. Seine Mutter sprach Juliet wegen des versprochenen Kaffees an.
»Er mag ja umsonst sein, aber wie's aussieht, muss man ihn sich holen gehen«, sagte sie. »Wären Sie so nett, auf ihn aufzupassen, während ich gehe?«
»Ich will nicht bei ihr bleiben«, sagte der Junge, ohne aufzuschauen.
»Ich werde gehen«, sagte Juliet. Aber im selben Augenblick kam ein Kellner mit dem Kaffeewagen in den Waggon.
»Da ist er ja. Ich hätte mich nicht so schnell beschweren sollen«, sagte die Mutter. »Haben Sie gehört, dass es ein M-a-n-n war?«
Juliet schüttelte den Kopf.
»Er hatte nicht mal einen Mantel an. Jemand hat ihn aussteigen und in Fahrtrichtung gehen sehen, aber keinem war klar, was er vorhatte. Er muss bis hinter die Kurve gelaufen sein, damit der Lokführer ihn erst sehen konnte, als es zu spät war.«
Ein paar Reihen weiter, auf der Seite der Mutter, sagte ein Mann: »Da kommen sie«, und einige auf Juliets Seite standen auf und beugten sich zum Fenster vor. Auch der kleine Junge stand auf und drückte sein Gesicht an die Scheibe. Seine Mutter befahl ihm, sich hinzusetzen.
»Du sollst ausmalen. Sieh mal, was du da gemacht hast, alles über die Linien.«
»Ich kann nicht hinsehen«, sagte sie zu Juliet. »Ich kann's nicht ertragen, so was zu sehen.«
Juliet stand auf und schaute hinaus. Sie sah eine kleine Gruppe von Männern zum Bahnhof zurückstapfen. Einige hatten ihre Mäntel ausgezogen und über die Bahre gelegt, die zwei von ihnen trugen.
»Man kann nichts sehen«, sagte ein Mann hinter Juliet zu einer Frau, die nicht aufgestanden war. »Sie haben ihn völlig zugedeckt.«
Nicht alle der Männer, die mit gesenkten Köpfen schritten, waren Bahnangestellte. Juliet erkannte den Mann, der im Aussichtswagen ihr gegenüber gesessen hatte.
Nach weiteren zehn oder fünfzehn Minuten setzte sich der Zug in Bewegung. Hinter der Kurve war auf beiden Seiten des Zuges kein Blut zu sehen. Aber es gab eine platt getretene Stelle, einen zusammengeschippten Schneehaufen. Der Mann hinter ihr war wieder aufgestanden. Er sagte: »Da wird es wohl passiert sein«, schaute noch eine Weile lang hinaus, ob es noch etwas zu sehen gab, drehte sich dann um und setzte sich hin. Der Zug, statt schneller zu fahren, um die verlorene Zeit wettzumachen, schien langsamer als vorher zu fahren. Aus Respekt vielleicht, oder aus Besorgnis, was den Zug erwarten mochte,
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