Tricks
gefahren wäre…«, sagte sie. »Aber er hat gesagt, er fährt bis Vancouver, und ich hätte ihn am Hals gehabt. Tagelang.«
»Ja.«
»Das hätte mir wirklich passieren können.«
»Ja.«
»Eben.«
»Wirklich Pech«, sagte er und lächelte ein klein wenig. »Zum ersten Mal bringen Sie die Kraft auf, jemanden abzuweisen, und er wirft sich vor den Zug.«
»Es kann der Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat«, sagte sie und fühlte sich jetzt ein wenig in der Defensive. »Das kann doch sein.«
»Ich denke, Sie werden in Zukunft einfach Acht geben müssen.«
Juliet hob den Kopf und sah ihm fest in die Augen.
»Sie meinen, ich übertreibe.«
Dann geschah etwas, das ebenso plötzlich und ungewollt war wie ihre Tränen. Ihr Mund begann zu zucken. Ruchloses Gelächter stieg in ihr auf.
»Ist vielleicht wirklich ein bisschen überspitzt.«
Er sagte: »Ein bisschen.«
»Sie finden, ich dramatisiere?«
»Das ist ganz natürlich.«
»Aber Sie halten es für einen Fehler«, sagte sie, jetzt nicht mehr lachend. »Sie denken, dass ich mich schuldig fühle, ist nur Selbstmitleid.«
»Ich denke, dass …«, sagte er. »Ich denke, dass das hier unbedeutend ist. In Ihrem Leben werden Dinge geschehen – werden wahrscheinlich Dinge geschehen, neben denen Ihnen dies unbedeutend vorkommen wird. Dann werden Sie sich ganz anders schuldig fühlen können.«
»Sagen das die Leute nicht immer? Zu jemandem, der jünger ist? Sie sagen, ach, später wirst du ganz anders denken. Wart's mal ab. Als hätte man nicht das Recht auf ernst zu nehmende Gefühle. Als wäre man dazu nicht fähig.«
»Gefühle«, sagte er. »Ich habe von Erfahrung geredet.«
»Aber Sie sagen doch damit, dass Schuldgefühle sinnlos sind. Das wird doch behauptet. Stimmt denn das?«
»Beantworten Sie es mir.«
Sie unterhielten sich noch längere Zeit darüber, leise, aber so eindringlich, dass Vorbeigehende manchmal ein erstauntes Gesicht machten oder sogar unangenehm berührt aussahen, wie Leute es tun, wenn sie Gespräche mit anhören, die ihnen übertrieben abstrakt vorkommen. Juliet merkte nach einer Weile, dass sie, obwohl sie – und zwar ziemlich gut, wie sie fand – für die Notwendigkeit von Schuldgefühlen sowohl im öffentlichen Bereich wie auch im Privatleben eintrat, selbst für den Augenblick keine mehr verspürte. Man könnte sogar sagen, dass sie sich wohlfühlte.
Er schlug vor, nach vorn in den Speisewagen zu gehen, wo sie Kaffee trinken konnten. Sobald sie dort waren, spürte Juliet, dass sie großen Hunger hatte, obwohl die Zeit fürs Mittagessen lange vorbei war. Salzbrezeln und Erdnüsse waren alles, was sich auftreiben ließ, und sie schlang sie derart gierig herunter, dass an die tiefschürfende, ein wenig weltfremde Unterhaltung von vorhin nicht mehr zu denken war. Stattdessen erzählten beide von sich selbst. Er hieß Eric Porteous, und er wohnte in einem Ort namens Whale Bay, irgendwo nördlich von Vancouver, an der Westküste. Aber er fuhr nicht direkt dorthin, er unterbrach seine Reise in Regina, um Leute zu besuchen, die er lange nicht mehr gesehen hatte. Er war Fischer, er fing Krabben. Sie fragte ihn nach der medizinischen Erfahrung, von der er gesprochen hatte, und er sagte: »Ach, die ist nicht besonders umfangreich. Nur ein paar Semester. Wenn man draußen in der Wildnis ist oder auf einem Boot, kann alles Mögliche passieren. Den Leuten, die mit einem arbeiten. Oder einem selbst.«
Er war verheiratet, seine Frau hieß Ann.
Vor acht Jahren, sagte er, war Ann bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Mehrere Wochen lang lag sie im Koma. Als sie daraus aufwachte, war sie immer noch gelähmt, konnte nicht gehen oder auch nur allein essen. Sie schien zu wissen, wer er war und wer die Frau war, die sie pflegte – mit Hilfe dieser Frau konnte er sie zu Hause behalten –, aber ihre Versuche, zu sprechen, zu verstehen, was um sie herum vorging, ließen bald nach.
Sie waren auf einer Party gewesen. Seine Frau hatte keine Lust gehabt hinzugehen, aber er hatte hingehen wollen. Dann beschloss sie, allein nach Hause zu gehen, denn der Verlauf der Party behagte ihr nicht.
Es waren Betrunkene von einer anderen Party, die von der Straße abkamen und sie überfuhren. Teenager.
Zum Glück hatten Ann und er keine Kinder. Zum Glück.
»Wenn man das anderen erzählt, haben sie das Gefühl, sie müssen sagen: Wie schrecklich. Was für eine Tragödie. Und so weiter.«
»Können Sie es ihnen verübeln?«,
Weitere Kostenlose Bücher