Tricks
sagte Juliet, die drauf und dran gewesen war, etwas Ähnliches zu sagen.
Nein, sagte er. Aber das Ganze war eben wesentlich komplizierter. Empfand Ann es als Tragödie? Wahrscheinlich nicht. Empfand er es so? Es war einfach etwas, an das man sich gewöhnte, ein neues Leben. Das war alles.
*
Alle von Juliets angenehmen Erfahrungen mit Männern hatten bislang in der Phantasie stattgefunden. Ein oder zwei Filmstars, der wunderbar sanfte Tenor – nicht der virile, herzlose Held – in einer alten Plattenaufnahme von Don Giovanni. Heinrich V., wie sie bei Shakespeare von ihm gelesen und wie Laurence Olivier ihn im Film dargestellt hatte.
Das war lächerlich und armselig, aber wer brauchte das je zu erfahren? Im wirklichen Leben hatte es nur Demütigungen und Enttäuschungen gegeben, die sie so schnell wie möglich aus ihren Gedanken verbannt hatte.
Die Bälle in der High School, bei denen sie auf einer abgelegenen Insel gestrandet war, umgeben von einer schnatternden Schar anderer Mauerblümchen. Die Verabredungen mit College-Studenten, getroffen ohne große Sympathie auf beiden Seiten, deren Langeweile sie mit einem hektischen Bemühen um Lebhaftigkeit bekämpft hatte. Der Abend mit dem zu Besuch weilenden Neffen ihres Doktorvaters voriges Jahr, der zu ihrer Entjungferung – Vergewaltigung konnte man es nicht nennen, denn auch sie war fest dazu entschlossen gewesen – auf der bloßen Erde im Willis Park geführt hatte.
Auf dem Heimweg hatte er erklärt, dass sie nicht sein Typ sei. Und sie hatte sich zu gedemütigt gefühlt, um zu erwidern – oder sich in diesem Augenblick auch nur einzugestehen –, dass er auch nicht ihr Typ war.
Sie hing nie Tagträumen von einem konkreten, realen Mann nach – schon gar nicht von einem ihrer Lehrer. Ältere Männer wirkten auf sie im wahren Leben ein wenig unappetitlich.
Dieser Mann war wie alt? Er war seit mindestens acht Jahren verheiratet – und vielleicht schon zwei Jahre, zwei oder drei Jahre länger. Dann musste er fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre alt sein. Er hatte dunkle, lockige Haare mit etwas Grau an den Schläfen, seine Stirn war breit und wettergegerbt, seine Schultern kräftig und ein wenig krumm. Er war kaum größer als sie. Seine dunklen Augen lagen weit auseinander, waren neugierig, aber auch auf der Hut. Sein rundes Grübchenkinn war kampflustig.
Sie erzählte ihm von ihrer Stellung, nannte ihm den Namen der Schule – Torrance House. (»Was wollen Sie wetten, dass sie Haus der Torturen genannt wird?«) Sie erzählte ihm, dass sie keine richtige Lehrerin war, aber dass die Schule froh war, jemanden zu kriegen, der Griechisch und Latein im Hauptfach studiert hatte. Kaum jemand tat das noch.
»Warum haben Sie es denn getan?«
»Ach, wahrscheinlich einfach, um anders zu sein.«
Und dann, obwohl sie schon immer gewusst hatte, dass sie das nie einem Mann oder Jungen gestehen durfte, wenn sie nicht wollte, dass er sofort das Interesse an ihr verlor, sagte sie es ihm.
»Und weil ich es liebe. Ich liebe diese Fächer. Ist wirklich wahr.«
Sie aßen zusammen zu Abend – jeder trank ein Glas Wein – und gingen dann nach hinten zum Aussichtswagen, wo sie im Dunkeln saßen, ganz allein. Diesmal hatte Juliet ihren Pullover mitgenommen.
»Die Leute denken wohl, hier oben gibt's nachts nichts zu sehen«, sagte er. »Aber schauen Sie sich die Sterne an, die man in einer klaren Nacht sehen kann.«
Die Nacht war wirklich klar. Der Mond schien nicht, zumindest noch nicht, und die Sterne verdichteten sich zu schwach oder hell leuchtenden Wolken. Und wie jeder, der auf Schiffen gelebt und gearbeitet hat, kannte er sich mit der Karte des Himmels aus. Sie konnte nur den Großen Wagen ausmachen.
»Da fangen Sie an«, sagte er. »Nehmen Sie die beiden Sterne auf der hinteren Seite des Wagens, gegenüber der Deichsel. Haben Sie sie? Das sind die Richtsterne. Folgen Sie ihnen nach oben. Immer weiter nach oben, und Sie finden den Polarstern.« Und so weiter.
Er zeigte ihr den Orion, der, sagte er, im Winter das auffälligste Sternbild am Nördlichen Sternenhimmel war. Und Sirius, den Hundsstern, zu dieser Jahreszeit der hellste Stern am ganzen Himmel.
Juliet machte es Spaß, etwas Neues zu lernen, aber es machte ihr auch Spaß, als die Reihe an sie kam, ihm etwas Neues beizubringen. Er kannte die Namen, aber nicht die Sagen.
Sie erzählte ihm, dass Orion von Oinopion geblendet worden war, aber sein Augenlicht zurückerhielt, als er in die Sonne
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