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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hinter der nächsten Kurve. Der Oberkellner ging durch den Wagen und verkündete, dass die ersten Mittagsgäste im Speisewagen Platz nehmen konnten, und die Mutter stand mit dem kleinen Jungen zusammen sofort auf und folgte ihm. Eine Prozession begann, und Juliet hörte eine vorbeigehende Frau sagen: »Ist wahr?«
    Die Frau, mit der sie redete, antwortete leise: »Das hat sie gesagt. Alles voll Blut. Also muss es reingespritzt sein, als der Zug ihn …«
    »Sprich es nicht aus.«
    *
    Ein wenig später, als die Prozession geendet hatte und die ersten Mittagsgäste beim Essen saßen, kam der Mann vorbei – der Mann aus dem Aussichtswagen, der draußen durch den Schnee gelaufen war.
    Juliet stand auf und ging ihm rasch hinterher. In dem dunklen kalten Gang zwischen den Waggons, gerade als er die schwere Tür vor sich aufstoßen wollte, sagte sie: »Entschuldigen Sie. Ich muss Sie etwas fragen.«
    Der Gang war erfüllt von jähen Geräuschen, von dem Rasseln schwerer Räder auf den Gleisen.
    »Was gibt's denn?«
    »Sind Sie Arzt? Haben Sie den Mann gesehen, der…«
    »Ich bin kein Arzt. Es gibt keinen Arzt im Zug. Aber ich habe etwas medizinische Erfahrung.«
    »Wie alt war er?«
    Der Mann sah sie mit ruhiger Geduld und einigem Missfallen an.
    »Schwer zu sagen. Nicht jung.«
    »Hatte er ein blaues Hemd an? Hatte er blondbraun gefärbte Haare?«
    Er schüttelte den Kopf, nicht in Beantwortung ihrer Frage, sondern als Weigerung.
    »War es jemand, den Sie kannten?«, fragte er. »Wenn ja, sollten Sie das dem Schaffner sagen.«
    »Ich kannte ihn nicht.«
    »Dann entschuldigen Sie mich.« Er stieß die Tür auf und ließ sie stehen.
    Natürlich. Er dachte, dass sie aus widerwärtiger Neugier heraus fragte, wie viele andere.
    Alles voller Blut. Das
war widerwärtig, wenn man so wollte.
    Sie konnte nie mit jemandem über den Fehler reden, den sie begangen hatte, über dessen grauenhaften Witz. Man würde sie für außergewöhnlich roh und herzlos halten, falls sie je darüber sprach. Und was am Ende des Missverständnisses kam – der zerschmetterte Körper des Selbstmörders –, würde beim Erzählen kaum widerlicher und schrecklicher wirken als ihr eigenes Menstruationsblut.
    Erzähle das nie jemandem. (Sie erzählte es dann doch, ein paar Jahre später, einer Frau namens Christa, deren Namen sie da noch nicht kannte.)
    Aber sie wollte unbedingt jemandem etwas erzählen. Sie holte ihr Ringbuch hervor und begann auf einer der linierten Seiten einen Brief an ihre Eltern.
    Wir haben noch nicht die Grenze von Manitoba erreicht, und die meisten Fahrgäste haben sich beklagt, die Landschaft sei recht eintönig, aber sie können nicht behaupten, der Reise fehle es an dramatischen Zwischenfällen. Heute Morgen hielten wir bei einer gottverlassenen kleinen Siedlung in den nördlichen Wäldern, ganz in trostlosem Eisenbahnrot. Ich saß am Ende des Zuges im Aussichtswagen und fror mich zu Tode, weil sie da hinten an der Heizung sparen (sie sagen sich wohl, dass die landschaftlichen Reize von der Unbehaglichkeit ablenken werden), und ich war zu faul, durch den Zug zu laufen und meinen Pullover zu holen. Wir saßen dort zehn oder fünfzehn Minuten lang herum, dann ging es weiter, und ich sah vorn die Lokomotive in einer Kurve verschwinden, dann gab es plötzlich eine Art dumpfen Aufprall …
    Sie, ihr Vater und ihre Mutter hatten es sich immer angelegen sein lassen, unterhaltsame Geschichten ins Haus zu bringen. Das hatte ein leichtes Zurechtrücken nicht nur der Tatsachen, sondern auch der eigenen Stellung in der Welt erfordert. Zumindest hatte Juliet sich dazu bemüßigt gefühlt, als ihre Welt noch die Schule war. Sie hatte sich zu einer recht überlegenen, unverwundbaren Beobachterin gemacht. Und jetzt, fort von zu Hause, war ihr diese Attitüde zur Gewohnheit, fast zur Pflicht geworden.
    Aber sobald sie die Worte
dumpfer Aufprall
hingeschrieben hatte, merkte sie, dass sie nicht fortfahren konnte. Jedenfalls nicht in der bei diesen Gelegenheiten üblichen Ausdrucksweise.
    Sie versuchte, aus dem Fenster zu schauen, aber die Szenerie, obschon aus denselben Bestandteilen zusammengesetzt, hatte sich verändert. Nach weniger als hundert Meilen schien hier ein milderes Klima zu herrschen. Die Seen waren mit Eis gerändert, aber nicht zugefroren. Das schwarze Wasser, die schwarzen Felsen unter den Winterwolken füllten die Luft mit Dunkelheit. Der Anblick ermüdete sie, sie nahm wieder ihren Dodd zur Hand und schlug ihn wahllos

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