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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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hätte und sich dann mit ihnen treffen würde. Er sagte ihnen, wann. Und wo. Sie liefen ohne einen Pfennig Geld herum, bis es Zeit wurde. Und er tauchte einfach nicht auf.
    »Hatte nie vor aufzutauchen. Hat sie sitzen lassen. Also mussten sie zur Wohlfahrt. Haben in einem Schuppen draußen auf dem Lande gehaust, wo's billig war. Irenes ältere Schwester, die besser für alle gesorgt hat als die Mutter, nehme ich an, ist an einem geplatzten Blinddarm gestorben. Gab keine Möglichkeit, sie in die Stadt zu schaffen, es herrschte Schneesturm, und sie hatten kein Telefon. Irene wollte danach nicht wieder in die Schule, weil ihre Schwester sie beschützt hatte, wenn die anderen Kinder sie hänselten. Sie mag jetzt dickfellig wirken, aber ich denke mal, das ist sie nicht immer gewesen. Auch jetzt ist es vielleicht eher eine Tarnung.«
    Und nun, sagte er, kümmerte sich Irenes Mutter um den kleinen Jungen und das kleine Mädchen, aber stell dir vor, nach all den Jahren ist der Vater wieder aufgetaucht und hat die Mutter zu überreden versucht, zu ihm zurückzukommen, und wenn das passiert, weiß Irene nicht, was sie machen soll, denn sie will nicht, dass die Kinder in seiner Nähe sind.
    »Das sind wirklich süße Kinder. Das kleine Mädchen leidet an einer Gaumenspalte und hat schon eine Operation hinter sich, aber sie muss später nochmal operiert werden. Sie wird bestimmt gesund. Aber es ist eben noch so eine Sache.«
    Noch so eine Sache.
    Was war mit Juliet los? Sie empfand kein echtes Mitleid. Sondern tief in ihrem Innern regte sich gegen diese trostlose Litanei eine Rebellion. Es war zu viel. Als auch noch die Gaumenspalte hinzukam, hätte sie sich eigentlich am liebsten beschwert.
Das ist zu viel
.
    Sie wusste, dass sie unrecht hatte, aber ihr Gefühl wollte nicht weichen. Sie hatte Angst, den Mund aufzumachen, damit er nicht ihr hartes Herz verriet. Sie hatte Angst, sie könnte zu Sam sagen: »Was ist eigentlich so wundervoll an all diesem Elend, macht es sie zu einer Heiligen?« Oder sogar, unverzeihlicherweise: »Ich hoffe, du hast nicht vor, uns jetzt solche Leute aufzuhalsen.«
    »Glaub mir«, sagte Sam, »als sie damals kam, um bei uns auszuhelfen, wusste ich einfach nicht mehr weiter. Letzten Herbst war deine Mutter eine absolute Katastrophe. Und nicht, weil sie alles losgelassen hat. Nein. Wäre besser gewesen, wenn sie alles losgelassen hätte. Und nichts getan hätte. Aber was hat sie gemacht, sie hat was angefangen, und dann konnte sie nicht weiter. Immer und immer wieder. Nicht, dass das etwas Neues war. Ich meine, ich musste schon immer hinter ihr herräumen und mich um sie kümmern und ihr beim Haushalt helfen. Du und ich, wir beide – weißt du noch? Sie war schon immer dieses reizende hübsche Mädchen mit dem schwachen Herz, und sie war es gewohnt, bedient zu werden. Manchmal ist mir in all den Jahren der Gedanke gekommen, sie hätte sich mehr Mühe geben können.
    Aber dann wurde es richtig schlimm«, sagte er. »Ich kam nach Hause, und mitten in der Küche die Waschmaschine und der ganze Fußboden voller klatschnasser Sachen. Und aus dem Herd qualmte es, sie hatte etwas backen wollen und aufgegeben, alles völlig verkohlt. Ich hatte Angst, dass sie die Küche in Brand steckt. Dass sie das ganze Haus in Brand steckt. Ich hab ihr immer wieder gesagt, bleib im Bett. Aber nein, und dann eine Schweinerei nach der anderen und sie in Tränen aufgelöst. Ich habe mehrere Mädchen zu Hilfe geholt, und sie sind einfach nicht mit ihr fertig geworden. Und dann – Irene.
    Irene«, sagte er mit einem Stoßseufzer. »Ich segne den Tag. Das kann ich dir sagen. Ich segne den Tag.«
    Aber wie alle guten Dinge, sagte er, musste auch das ein Ende haben. Irene wollte heiraten. Einen vierzig oder fünfzig Jahre alten Witwer. Einen Farmer. Angeblich hatte er Geld, und um ihretwillen hoffte Sam, dass es stimmte. Denn der Mann hatte ansonsten nicht viel, was für ihn sprach.
    »Bei Gott nicht. Soweit ich weiß, hat er nur einen einzigen Zahn im Mund. Schlechtes Zeichen, meiner Meinung nach. Zu stolz oder zu geizig, um sich ein Gebiss zu besorgen. Man stelle sich vor – ein bildhübsches Mädel wie sie.«
    »Wann findet das Ereignis statt?«
    »Im Herbst. Irgendwann im Herbst.«
    *
    Penelope hatte die ganze Zeit über geschlafen – sie war in ihrem Kindersitz fast gleich nach der Abfahrt eingeschlafen. Die vorderen Fenster waren heruntergedreht, und Juliet konnte das Heu riechen, das frisch gemäht und zu Ballen gepresst

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