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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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kein Wort. Wie sie es in Erinnerung hat, hätte man brüllen müssen, um gehört zu werden. Und was sie in Erinnerung hat, das lässt sich, um die Wahrheit zu sagen, kaum unterscheiden von ihren Ideen, ihren Phantasievorstellungen zu jener Zeit, wie Sex sein sollte. Die zufällige Begegnung, die stummen, aber starken Signale, die nahezu schweigsame Flucht, in der sie mehr oder weniger die Rolle der Gefangenen übernahm. Eine leichtherzige Kapitulation, das Fleisch jetzt nichts weiter als ein Strom des Verlangens.
    Sie hielten schließlich in Kaladar und gingen in das Hotel – das alte Hotel, das es immer noch gibt. Neil ergriff ihre Hand, verflocht seine Finger mit den ihren, verlangsamte seine Schritte, um sich ihrem humpelnden Gang anzupassen, und führte sie in die Bar. Sie erkannte den Raum als eine Bar, obwohl sie noch nie in einer gewesen war. (Der Gasthof in Bailey's Falls hatte damals noch keine Lizenz zum Alkoholausschank – getrunken wurde auf den Zimmern oder in einem ziemlich trostlosen sogenannten Nachtclub auf der anderen Straßenseite.) Die Bar war ganz so, wie sie es erwartet hatte – ein stickiger, düsterer großer Raum, mit Tischen und Stühlen, die nach hastigem Aufwischen achtlos wieder hingestellt worden waren, mit einem Geruch nach Lysol, der den Geruch nach Bier, Whisky, Zigarren, Pfeifen und Männern nicht vertreiben konnte.
    Es war niemand da – vielleicht wurde sie erst am Nachmittag geöffnet. Aber war vielleicht nicht schon Nachmittag? Ihr Zeitgefühl ließ sie im Stich.
    Jetzt kam ein Mann aus einem anderen Raum und redete Neil an. Er sagte: »Hallo, Doc«, und ging hinter die Bar.
    Grace glaubte, dass es immer so sein würde – überall, wo sie hinkamen, würde jemand sein, der Neil kannte.
    »Sie wissen doch, dass Sonntag ist«, sagte der Mann mit strenger, laut erhobener Stimme, als wolle er draußen auf dem Parkplatz gehört werden. »Ich darf Ihnen hier am Sonntag nichts verkaufen. Und ihr darf ich an keinem Tag was verkaufen. Sie dürfte überhaupt nicht hier sein. Haben Sie verstanden?«
    »Oh ja, Sir. Ganz recht, Sir«, sagte Neil. »Ich stimme Ihnen völlig zu.«
    Während die beiden redeten, hatte der Mann hinter der Bar eine Flasche Whisky aus einem verborgenen Regal geholt, goss davon ein Glas voll und schob es Neil über den Tresen zu.
    »Haben Sie Durst?«, sagte er zu Grace. Er machte schon eine Flasche Cola auf. Er gab sie ihr ohne ein Glas.
    Neil legte einen Geldschein auf den Tresen, und der Mann schob ihn beiseite.
    »Hab Ihnen doch gesagt«, sagte er. »Darf nichts verkaufen.«
    »Was ist mit der Cola?«, fragte Neil.
    »Darf nichts verkaufen.«
    Der Mann stellte die Flasche weg, Neil trank sehr schnell aus, was im Glas war. »Sie sind ein guter Mensch«, sagte er. »Die Seele des Gesetzes.«
    »Nehmen Sie die Cola mit. Je eher das Mädchen hier raus ist, desto glücklicher bin ich.«
    »Und ob«, sagte Neil. »Sie ist ein anständiges Mädchen. Meine Schwägerin. Zukünftige Schwägerin. So höre ich.«
    »Ist das wahr?«
    Sie kehrten nicht wieder auf den Highway 7 zurück, sondern nahmen die Straße nach Norden, die nicht asphaltiert war, aber breit genug und halbwegs eben. Der Alkohol schien auf Neils Fahrverhalten die gegenteilige Wirkung von der zu haben, die man ihm allgemein zuschrieb. Neil fuhr nicht mehr so schnell, sondern in dem gemessenen, sogar vorsichtigen Tempo, das diese Straße erforderte.
    »Sie haben nichts dagegen?«, fragte er.
    »Wogegen?«, fragte Grace.
    »In eine Spelunke geschleppt zu werden.«
    »Nein.«
    »Ich brauche Ihre Gesellschaft. Was macht Ihr Fuß?«
    »Ist gut.«
    »Er muss wehtun.«
    »Nicht sehr. Es geht.«
    Er ergriff die Hand, die nicht die Cola-Flasche hielt, drückte sie an seinen Mund, leckte mit der Zunge darüber und ließ sie los.
    »Dachten Sie, ich entführe Sie zu schändlichen Zwecken?«
    »Nein«, log Grace und dachte, wie sehr das Wort sich nach seiner Mutter anhörte.
Schändlich
.
    »Es gab eine Zeit, da hätten Sie recht gehabt«, sagte er, als hätte sie mit ja geantwortet. »Aber nicht heute. Ich glaube nicht. Heute sind Sie so sicher wie in der Kirche.«
    Die Veränderung in seiner Stimme, die jetzt vertraulich und offen klang, leise, und die Erinnerung an seine Lippen auf ihrer Haut, an seine Zunge, die darüberhuschte, setzten Grace derartig zu, dass sie die Worte hörte, die er sagte, aber nicht deren Sinn erfasste. Sie spürte überall auf ihrer Haut hundertfach, tausendfach das Huschen seiner Zunge,

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