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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sie. Und sie für ihr Teil wusste fortwährend mehr und mehr über ihn.
    Und jetzt kam es ihr so vor, als könne sie in der Haustür ihren Onkel sehen, gebeugt und erstaunt hielt er nach ihr Ausschau, als sei sie viele Jahre lang fort gewesen. Als habe sie versprochen, bald wieder nach Hause zu kommen, und es dann vergessen, und eigentlich hätte er längst tot sein müssen, war aber noch nicht gestorben.
    Sie bemühte sich, mit ihm zu sprechen, aber er war fort. Sie wachte auf und regte sich. Sie saß mit Neil im Auto, war wieder auf der Straße. Sie hatte mit offenem Mund geschlafen und war durstig. Er drehte sich kurz zu ihr um, und trotz des Fahrtwindes bemerkte sie einen frischen Geruch nach Whisky.
    Es stimmte also.
    »Sind Sie wach? Sie haben fest geschlafen, als ich rausgekommen bin«, sagte er. »Tut mir leid – ich musste eine Weile lang plaudern. Was macht Ihre Blase?«
    Das war ein Problem, an das sie auch schon gedacht hatte, als sie bei dem Haus hielten. Sie hatte ein Toilettenhäuschen auf dem Hof gesehen, aber nicht den Mut aufgebracht, auszusteigen und hinzugehen.
    Er sagte: »Hier sieht's ganz gut aus« und hielt an. Sie stieg aus und ging ein Stück durch blühende Goldrute und Wilde Möhre und wilde Astern, um sich hinzuhocken. Er stand inmitten solcher Pflanzen auf der anderen Straßenseite, mit dem Rücken zu ihr. Als sie wieder ins Auto stieg, sah sie die Flasche auf dem Boden neben ihren Füßen. Mehr als ein Drittel des Inhalts fehlte schon.
    Er sah ihren Blick.
    »Nur keine Sorge«, sagte er. »Ich habe bloß was hier reingegossen.« Er hielt eine Taschenflasche hoch. »Ist praktischer beim Fahren.«
    Auf dem Boden lag auch eine Flasche Coca-Cola. Er sagte, sie solle ins Handschuhfach schauen, da sei der Flaschenöffner.
    »Sie ist ja kalt«, sagte sie überrascht.
    »Kühlkiste. Im Winter schneiden sie Eis aus den Seen und lagern es in Sägemehl. Seine ist unter dem Haus.«
    »Ich dachte, ich hätte meinen Onkel im Hauseingang gesehen«, sagte sie. »Aber ich habe geträumt.«
    »Erzählen Sie mir mehr über Ihren Onkel. Erzählen Sie mir was darüber, wo Sie leben. Was Sie machen. Irgendwas. Ich höre Sie einfach gerne reden.«
    In seiner Stimme lag neue Kraft, und sein Gesicht hatte sich verändert, aber es war nichts von der manischen Glut der Trunkenheit zu spüren. Es war nur, als sei es ihm schlecht gegangen – nicht furchtbar schlecht, nur erschöpft, nicht ganz auf dem Posten–, und als wollte er ihr jetzt versichern, dass es ihm besser ging. Er schraubte die Taschenflasche zu und legte sie hin und griff nach ihrer Hand. Er hielt sie nicht fest, nur ein freundschaftlicher Händedruck.
    »Er ist schon sehr alt«, sagte Grace. »Er ist eigentlich mein Großonkel. Er ist Rohrflechter – das heißt, er versieht Stühle mit Rohrgeflecht. Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber ich könnte es Ihnen zeigen, wenn wir einen Rohrstuhl hätten …«
    »Ich sehe keinen.«
    Sie lachte und sagte: »Eigentlich ist es langweilig.«
    »Dann erzählen Sie mir, wofür Sie sich interessieren. Was interessiert Sie?«
    »Sie«, sagte sie.
    »Ach. Was interessiert Sie an mir?« Er zog seine Hand fort.
    »Was Sie jetzt gerade tun«, sagte Grace mit fester Stimme. »Warum.«
    »Sie meinen das Trinken? Warum ich trinke?« Die Taschenflasche wurde aufgeschraubt. »Warum fragen Sie mich nicht?«
    »Weil ich weiß, was Sie dann sagen würden.«
    »Nämlich was? Was würde ich sagen?«
    »Sie würden sagen, was soll man denn sonst tun? Oder so etwas.«
    »Das ist wahr«, sagte er. »Ungefähr das würde ich sagen. Und dann würden Sie versuchen, mir zu erklären, warum ich unrecht habe.«
    »Nein«, sagte Grace. »Nein. Das würde ich nicht tun.«
    Kaum hatte sie das gesagt, wurde ihr kalt. Sie hatte gedacht, es sei ihr ernst damit gewesen, aber jetzt merkte sie, dass sie versucht hatte, ihn mit diesen Antworten zu beeindrucken, sich so lebenserfahren zu geben, wie er es war, und plötzlich war sie dabei auf eine abgründige Wahrheit gestoßen. Auf eine Hoffnungslosigkeit – aufrichtig, vernünftig und unabänderlich.
    Neil sagte: »Das würden Sie nicht tun? Nein. Sie nicht. Welch eine Wohltat. Sie sind eine Wohltat, Grace.«
    Nach einer Weile sagte er: »Wissen Sie – ich fühle mich schläfrig. Sobald wir eine gute Stelle gefunden haben, werde ich parken und etwas schlafen. Nur ein Weilchen. Haben Sie was dagegen?«
    »Nein. Ich finde es richtig.«
    »Sie werden auf mich

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