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Tricks

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Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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weil sie mal auf einer Party gewesen war – eine von den Partys, die mehrere Tage dauerten –, auf der ein Mädchen an einem geplatzten Blinddarm gestorben war, weil alle zu bekifft gewesen waren, um zu merken, dass ihr Zustand ernst war. Als sie zu dem Schluss kam, dass Laurens Blinddarm nichts fehlte, ging sie das Abendessen zubereiten, und Harry leistete Lauren Gesellschaft.
    »Ich glaube, du hast Schulitis«, sagte er. »Das habe ich früher auch gekriegt. Nur in meiner Kindheit gab es dagegen noch kein Heilmittel. Weißt du, was das Heilmittel ist? Auf dem Sofa liegen und fernsehen.«
    Am nächsten Morgen sagte Lauren, dass ihr immer noch übel sei, obwohl es nicht stimmte. Sie lehnte ein Frühstück ab, aber sobald Harry und Eileen aus dem Haus waren, holte sie sich ein Zimtkuchenbrötchen, das sie aß, ohne es vorher aufzuwärmen, während sie fernsah. Sie wischte sich die klebrigen Finger an der Decke ab, mit der sie zugedeckt war, und versuchte, über ihre Zukunft nachzudenken. Sie hätte sie am liebsten an Ort und Stelle verbracht, im Haus, auf dem Sofa, aber falls sie nicht eine echte Krankheit fabrizieren konnte, sah sie nicht, wie das gehen sollte.
    Die Fernsehnachrichten waren vorbei, und eine der täglichen Seifenopern lief. Das war eine Welt, die ihr vertraut gewesen war, als sie im vorigen Frühjahr Bronchitis gehabt hatte, und die sie inzwischen völlig vergessen hatte. Doch trotz ihrer Fahnenflucht schien sich nicht viel geändert zu haben. Die meisten Personen waren noch dieselben wie früher – natürlich unter neuen Umständen – und hatten dasselbe Verhalten (edel, skrupellos, sexy, traurig) und dieselben Blicke in die Ferne und dieselben unvollständigen Sätze, die auf Unfälle und Geheimnisse anspielten. Sie genoss es, ihnen eine Weile zuzuschauen, aber dann kam ihr etwas in den Sinn und beunruhigte sie. In diesen Geschichten stellte sich oft heraus, dass Kinder und auch Erwachsene zu einer ganz anderen Familie gehörten als zu der, die sie immer für ihre eigene gehalten hatten. Fremde, die manchmal verrückt und gefährlich waren, erschienen aus heiterem Himmel mit ihren katastrophalen Forderungen und Gefühlen und stellten das Leben anderer auf den Kopf.
    Das mochte ihr früher wie eine verlockende Möglichkeit vorgekommen sein, aber jetzt nicht mehr.
    Harry und Eileen schlossen nie die Haustüren ab. Stell dir vor, sagte Harry immer – wir leben in einem Ort, wo du einfach fortgehen kannst und nicht abzuschließen brauchst. Jetzt stand Lauren auf und schloss beide ab, die Vorder- und die Hintertür. Dann zog sie die Vorhänge an allen Fenstern zu. Es schneite heute nicht, aber es taute auch nicht. Der Neuschnee hatte schon einen Graustich, als sei er über Nacht alt geworden.
    Sie fand keine Möglichkeit, die kleinen Fenster in der Vordertür zu verhängen. Es gab drei davon, geformt wie Tränen, in einer diagonalen Linie. Eileen hasste sie. Sie hatte die Tapeten heruntergerissen und die Wände dieses billigen Hauses in unerwarteten Farben angestrichen – Türkisblau, Brombeerrosa, Zitronengelb –, sie hatte hässliche Teppichböden entfernt und die Dielen abgeschliffen, aber es gab nichts, was sie gegen diese niedlichen kleinen Fenster unternehmen konnte.
    Harry sagte, die seien doch gar nicht so schlimm, es gebe eins für jeden von ihnen und auch genau in der richtigen Höhe, damit jeder von ihnen hinausschauen konnte. Er nannte sie Papa Bär, Mama Bär und Baby Bär.
    Als die Seifenoper aufhörte und ein Mann und eine Frau sich über Zimmerpflanzen unterhielten, sank Lauren in einen leichten Schlummer, ohne es recht zu merken. Sie wusste erst, dass sie eingeschlafen sein musste, als sie aus einem Traum von einem Tier erwachte, ein winterlich graues Wiesel oder ein magerer Fuchs – sie war sich nicht sicher –, jedenfalls ein Tier, das am helllichten Tag vom Garten aus das Haus beobachtete. Im Traum hatte ihr jemand gesagt, dass dieses Tier tollwütig sei, denn es habe überhaupt keine Angst vor Menschen oder den Häusern, in denen sie wohnten.
    Das Telefon klingelte. Sie zog sich die Decke über den Kopf, um es nicht zu hören. Sie war überzeugt, das war Delphine. Delphine, die wissen wollte, wie es ihr ging, warum sie sich versteckte, was sie von der Geschichte hielt, die sie ihr erzählt hatte, wann sie wieder ins Hotel kam?
    *
    In Wirklichkeit war es Eileen, die sich nach Lauren und dem Zustand ihres Blinddarms erkundigen wollte. Eileen ließ das Telefon zehn- oder

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