Tricontium (German Edition)
unternommen hatte und zudem fürchtete, den von seiner Mutter so gepriesenen Frieden im Haus aufs Spiel zu setzen, wenn er Rambert gegen Theodulfs Überzeugungen zu einem neuen Pferdchen verhalf. »Wenn du willst, mache ich dir ein Pferd oder einen Tiger. Dann könnt ihr euch zusammensetzen und die Geschichte von Tergeli Khan nachspielen.«
Dieses zweite Angebot hielt er eigentlich für noch besser als das erste, aber Rambert schüttelte leicht den Kopf. »Danke. Ich hätte lieber ein Pferdchen.«
Wulfin dagegen bewies Geschmack. »Du willst keinen Tiger?«, fragte er reichlich verständnislos. »Aber ein Tiger ist gut! Weißt du, was ein Tiger ist? So etwas wie ein Löwe, bloß noch größer, und er kann Menschen fressen!«
Für Rambert war diese liebenswerte Eigenschaft offensichtlich keine Empfehlung, doch Ardeija ahnte, dass Wulf sich spätestens heute Abend der Frage ausgesetzt sehen würde, ob er nicht nur gute Pferdchen, sondern auch gute Tiger machen könne.
»Ein Pferd ist auch gut«, sagte er rasch, bevor hierüber noch so große Uneinigkeit wie über die furchtlosen Helden entstehen konnte. »In allen guten Geschichten kommt mindestens ein berühmtes Pferd vor.«
»Aber in der von Tergeli Khan ein Tiger?« Wulfin konnte all die Begeisterung für den Gegenstand aufbringen, die Rambert gut getan hätte.
Ardeija hob die Schultern. »In gewisser Weise.«
»Einer, der Menschen gefressen hat?«
»Bestimmt.« Ramberts Miene war finster. »Die Barsakhanen erzählen nur blutrünstige Geschichten.«
Ganz Unrecht hatte er nicht, aber Ardeija fürchtete, dass er es nicht lobend gemeint hatte. »Sagt das auch Herr Theodulf?«
Ein Nicken. »Er sagt, dass Frau Asri die allerschlimmsten kennt.«
Auch das war nicht völlig aus der Luft gegriffen.
Wulfin strahlte. »Die Geschichte über Tergeli Khan ist von Eurer Mutter, ja?«
»Ja.« Ardeija sah zur Tür hinüber und fragte sich, warum Wulf so elend lange brauchte, um ein paar Schalen Tee zu servieren. »Du möchtest sie hören, nicht wahr?«
»Ich auch.« Rambert schien beschlossen zu haben, dass es, Bedenken hin oder her, eine Frage der Ehre sei, nicht hinter Wulfins Wissbegier zurückzustehen.
Ardeija lauschte schweigend, doch nichts an den gedämpften Stimmen, die aus dem Nebenzimmer herüberklangen, ließ darauf schließen, dass die Unterredung bald beendet sein würde. Vielleicht war es tatsächlich das Beste, wenn sie sich alle mit der Geschichte beschäftigt hielten.
»Also gut«, sagte er und legte Gjuki die geöffnete Nuss auf den Tisch. »Dann werde ich euch die Geschichte von Tergeli Khan, den man auch den Tigerkhan nennt, erzählen. Wulfin hat Recht mit dem, was er über Tiger sagt. Aber wenn sie gerade nicht damit beschäftigt sind, Leute zu verspeisen, sind sie vor allem große, ehrfurchtgebietende Geschöpfe, mächtiger als alle anderen Tiere des Ostens, sieht man von den riesigen Drachen ab, die dort unter den Bergen wohnen sollen.”
Gjuki schnaubte; offensichtlich hielt er nicht viel von seiner entfernten Verwandtschaft jenseits der ausgedehnten Steppen.
»Mächtiger als Elefanten?« Wulfin klang enttäuscht, und Ardeija sah mit einer Klarheit, die er nicht für möglich gehalten hätte, einen noch sehr jungen Wulfila vor sich, wie er mit leuchtenden Augen über irgendeinen Menschen namens Hannibal redete, der etwas mit den Römern und einem Feldzug und Elefanten zu tun gehabt hatte. Ardeija bekam die Geschichte nicht mehr ganz zusammen, aber er war fast sicher, dass Wulfin sie kannte.
»Wahrscheinlich nicht«, gestand er, »aber die Barsakhanen verehren die Tiger sehr. Sie glauben, dass sie ihre Götter begleiten, wie ein Fürst sich von Jagd- und Wachhunden begleiten lässt, und die Walddämonen nehmen gelegentlich Tigergestalt an.«
»Habt Ihr jemals einen Tiger gesehen, Herr Ardeija?«, fragte Rambert.
Es war verlockend, nun eine wilde Heldengeschichte zu erfinden, doch Ardeija schüttelte den Kopf. »Leider nein! Aber vielleicht sollte ich gar nicht ›leider‹ sagen – er hätte mich ja fressen können, nicht wahr? Und wenn er das getan hätte, könnte ich euch nun nichts über Tergeli Khan erzählen. Vor langer Zeit, lange bevor eure Großeltern oder selbst meine auch nur geboren waren, in den Tagen, als die Römer noch den Westen der Welt beherrschten, hatten die Barsakhanen, die damals viel weiter im Osten lebten als heute, einen berühmten Herrscher, den ersten, der jemals sieben Stämme unter seinem Feldzeichen vereinen
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