Tricontium (German Edition)
konnte. Er war damals der letzte Nachkomme Tulans, des Bogenschützen, der vom östlichen Meer her in die Steppe kam, als die Welt noch jung war. Dieser Fürst hieß Tergeli und er war ein tapferer Krieger und gerechter Richter, der unter seinen Leuten so viel galt wie in unserer Erinnerung der weise Salomo. Es gibt viele Geschichten über Tergeli, viel mehr, als ich euch an einem Tag erzählen könnte, über seinen Zauberbogen, seine zwölf weißen Pferde und seine Heldentaten ebenso wie über den heiligen Einsiedler, der sein Lehrer und Berater war … Auch über seine wilde Jugend, aber das hat meine Mutter gestern schon erwähnt, nicht wahr, Rambert? Diese Geschichte aber befasst sich mit Tergelis Ende und dafür genügt es, wenn ihr wisst, dass Tergeli Khan viele Feinde hatte, wie jeder gute Mann. Es gibt nichts Ärgerlicheres als Tugend gepaart mit Stärke, gerade, wenn ein Herrscher sie besitzt, und deshalb verschworen sich einige Häuptlinge und Fürsten gegen ihn und beschlossen, ihn zu töten. Aber wie sollten sie das anstellen? Die Krieger seines Gefolges waren ihm treu ergeben und waren die besten, die es damals unter den Barsakhanen gab, jeder einzelne von ihnen ein Held, über den man viele Geschichten erzählt! Daher mussten die Mörder abwarten, bis Tergeli ganz allein war, allein und weit entfernt von denen, die willig ihr Leben geopfert hätten, um seines zu schützen. Und es gab einen Tag in jedem Monat, an dem Tergeli allein und ungeschützt war. Denn trotz seiner Tapferkeit und Weisheit war Tergeli nur ein Mensch und wie jeder Mensch liebte er; doch die Frau, die er liebte, war eine, die nicht bei ihm sein konnte. Sie hieß Ketugai und man sagt, sie sei so schön wie die weißen Kraniche des Ostens gewesen … Das heißt, über alle Maßen schön.«
»Schöner als Frau Herrad?« Wulfin schien es mit dem Vergleich ernst zu sein und Ardeija hätte gern gewusst, ob diese vorteilhafte Einschätzung der äußeren Erscheinung der Richterin seiner eigenen Beobachtung entsprungen oder eher auf eine unbedachte Bemerkung seines Vaters zurückzuführen war.
»Ja. So schön, wie die Leute nur in alten Geschichten sind, und noch viel schöner als alle anderen. Doch sie lebte nicht in den Zelten der Nomaden, sondern in einem Haus unter hohen Birken in den Ausläufern der Berge von Sibirili. Manche Leute glauben, dass sie eine einfache Bäuerin war; andere aber erzählen, sie sei die Tochter verbannter Adliger aus einem der Königreiche des Ostens gewesen oder gar keine gewöhnliche Frau, sondern der Baumgeist der Birken, der aus Liebe zu Tergeli menschliche Form angenommen hatte.«
Da er die Geschichte zwei Kindern erzählte, verschwieg Ardeija die vierte Erklärung, die er kannte, die nämlich, dass Ketugai nur eine gewöhnliche Dirne gewesen sei, so dass nicht nur ihre Herkunft, sondern auch ihr Lebenswandel einer engeren Verbindung mit dem Fürsten entgegengestanden hatte. »Wer oder was auch immer sie nun war, eines war sie nicht – eine Barsakhanin von edler Geburt. Sie war auch keine fremde Fürstentochter, und eine Frau, die keines von beidem war, konnte Tergeli nicht heiraten. Seine Leute hätten das niemals geduldet. Er hätte sie wohl zu seiner Konkubine machen können, aber sie war stolz und wäre nicht bereit gewesen, weniger als ihr Geliebter zu gelten. So besuchte er sie nur einmal im Monat. Er verließ in der Abenddämmerung sein Zelt, um zu ihr zu reiten, und kehrte in der Morgendämmerung von ihrem Haus zurück.«
»Hätte er seine Leute denn nicht verlassen können, um sie zu heiraten?«, fragte Wulfin.
Ardeija hatte zu diesem Zeitpunkt der Geschichte nicht mehr mit einer weiteren Frage gerechnet und ganz gewiss nicht mit dieser. »Nun«, sagte er zögernd, »vermutlich hätte er das tun können. Aber er war doch der Herrscher mehrerer Stämme und trug Verantwortung für sein Volk.«
»Also mochte er lieber Herrscher sein als mit Ketugai zusammen«, sagte Wulfin mit einem Nicken.
Ardeija wollte eigentlich etwas Vernünftiges und Lehrreiches über Ehre und Pflichtgefühl erwidern, doch die Worte blieben unausgesprochen. Selbst seine Gedanken gehorchten ihm nicht, sondern ließen es sich nicht nehmen, die alte Sage, die er zu kennen geglaubt hatte, nun aus einem ganz anderen Blickwinkel zu betrachten. Er hatte stets angenommen, dass es eine wunderbare Erzählung über einen großen Helden sei, doch vielleicht war dem nicht so. Denn wie konnte eine Geschichte, die durch die in aller
Weitere Kostenlose Bücher