Tricontium (German Edition)
euch fragt, warum er das Amulett nicht unter seinen Kleidern versteckt hatte – dann hätte es von Anfang an nicht gewirkt! Er musste es sichtbar tragen. So starb also Tergeli Khan und sank blutüberströmt vom Pferd. Doch im Blut wohnt, wie die Barsakhanen sagen, die Seele; und als Tergeli Khan starb und sein Herzblut die schwarze Erde netzte, erhob sich daraus ein mächtiger weißer Tiger. Die Verschwörer wurden von Furcht ergriffen und wandten sich zur Flucht, doch der große Tiger nahm fürchterliche Rache und ließ keinen der verräterischen Fürsten und Häuptlinge entkommen. Die einfachen Krieger aber, die hatten tun müssen, was ihre Herren ihnen befohlen hatten, rührte er nicht an, und sie waren es, die die Kunde von Tergeli Khans Tod und Verwandlung zu den Zelten der Barsakhanen brachten. Als dann die Männer aus Tergelis Gefolge an den Ort kamen, wo der Khan gefallen war, fanden sie nur die Körper seiner toten Feinde, nicht aber seinen Leichnam. Tergelis menschlicher Körper war verschwunden und so hieß es für eine Weile, er sei nicht tot, sondern auf wundersame Weise gerettet worden. Doch Tergeli Khan kehrte nie zurück. Ein Jahr und einen Tag darauf aber jagte ein junger Krieger aus Tergelis ehemaligem Gefolge in Sibirili. Er stürzte, als er einen Hirsch verfolgte, vom Pferd und verletzte sich schwer. Als er nun so hilflos dalag, wurde er von Feinden, die ebenfalls in der Gegend jagten, gefunden, und glaubte sich schon dem Tode nah, als ein weißer Tiger erschien und die bösen Menschen vertrieb. Dann aber nahm er den erstaunten jungen Mann auf den Rücken und trug ihn bis zum Lager seines Stammes. Bald mehrten sich solche Berichte und vielerlei Anzeichen machten die Leute gewiss, dass der hilfreiche weiße Tiger in Wahrheit Tergeli Khan war, der noch nach seinem Tode über die guten Menschen wachte und denen, die es verdienten, in der Not half. Hilft er euch einmal, so müsst ihr ihm gebührend danken; denn die Undankbaren trifft irgendwann ein schlimmeres Unglück als das, vor dem der Tigerkhan sie gerettet hat.«
Dieses letzte Stück war wohl eindrucksvoll genug gewesen; die beiden blieben lange still.
»Ich glaube, ich möchte doch einen Tiger«, sagte Rambert schließlich.
Ardeija lächelte und kraulte Gjuki, der sich satt und zufrieden auf seinem Schoß zusammengerollt hatte. »Dann bekommst du einen.«
»Und Ketugai?« Es war vorhersehbar gewesen, dass Wulfin das Ende der Geschichte nicht ausreichen würde. »Was ist aus ihr geworden?«
»Die Mutter eines großen Fürsten. Sie hat Tergeli Khan, nachdem er tot war, einen Sohn geboren. Aber spätestens da wird es sehr verwickelt; man braucht einen langen Abend vor dem Feuer, um alles, was danach geschehen ist, erzählen und auseinanderhalten zu können.«
»Aber wenn wir einen Abend Zeit haben, erzählt Ihr dann, wie es weitergeht?« Rambert sah nicht mehr so unzufrieden mit den Barsakhanengeschichten aus, wie er es zunächst hatte sein wollen.
Ardeija nickte. »Der Abend wird kommen; der Winter ist immer länger, als man denkt.« Wenn er es recht bedachte, freute er sich sogar darauf, die dunkle Jahreszeit mit Geschichten, Heldenliedern und Rätseln zu füllen, vorausgesetzt, dass Theodulf nicht ständig dabeisaß und einem das Vergnügen daran oder an kleinen Holzpferden verdarb.
Rambert lächelte. »Das ist schön. Können wir …« Er brach ab, als die Tür zu Herrads Zimmer sich öffnete und die Richterin, ihre Teeschale in der Hand, auf der Schwelle erschien.
»Ardeija? Ich muss mit Euch sprechen.« Es entging ihr nicht, dass diese Aufforderung mit gleich drei misstrauischen Blicken beantwortet wurde. »Hat Herr Theodulf eigentlich mehr angestellt, als ich weiß, dass ihr mich alle anseht, als könne ich nur schlechte Nachrichten verkünden?«
»Mir hat er nichts gesagt«, gab Ardeija im Aufstehen vorsichtig zurück und klopfte sich die Nussreste, die Gjuki hinterlassen hatte, von den Kleidern.
Wulfin schien immer noch überzeugt zu sein, dass es einfach nicht gut ausgehen konnte, wenn man von einer Richterin zum Verhör geladen wurde. »Müsst Ihr ihn einsperren?«, erkundigte er sich geradewegs, ohne dass ersichtlich gewesen wäre, ob er mehr Mitgefühl mit Theodulf oder mit Herrad empfand.
Die Richterin lachte. »Ihr beiden könnt ja gehen und ihn fragen, während ich mit Ardeija rede.«
Wulfin sah sie an, als wolle er ihr sagen, dass man sich ungewollter Zuhörer auch unauffälliger entledigen könne, doch er folgte
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