Tricontium (German Edition)
gelangen, nämlich zu dem Tag, an dem Remigia – das ist die älteste Tochter – ihrem Vater bei seiner Rückkehr in die Stadt erzählte, dass ihre Mutter des jährlichen Kleinkriegs mit Fortunatus müde sei und deswegen wegzusehen gedenke, wenn er, wie jedes Jahr, versuche, die guten Winteräpfel abzuernten. Das war Remigius gar nicht recht, auch wenn der Garten de jure nicht seiner ist. Anscheinend mag er Äpfel. Jedenfalls beschloss er, Fortunatus zuvorzukommen, und begab sich auf der Stelle mit Remigia zu dem umstrittenen Apfelbaum. Dort war aber schon Fortunatus zugange, der zwei Mägde und eine Leiter mitgebracht hatte. Es kam zum Streit, man drohte sich gegenseitig, vor Gericht zu ziehen, um ein für alle Mal den Anspruch auf den Baum zu sichern. Die Tochter versuchte anscheinend noch zu vermitteln und schlug vor, jeder könne ja jeweils eine Seite des Baumes abernten, aber das wollten beide Herren nicht hören. Fortunatus wähnte sich dank seiner zahlreicheren Begleitung im Vorteil und wagte es, die Leiter umzusetzen, auf das falsche Grundstück. Was dann geschah, ist nicht völlig geklärt.«
»Göttliches Eingreifen aus unerwarteter Richtung!«, warf Wulfila ein und lachte.
Herrad nickte. »Darauf sollte ich mich wohl zurückziehen, wenn die Sache gar nicht zu klären ist … Fest steht nach allen Aussagen, dass Fortunatus auf die Leiter steigt und Remigius im selben Augenblick seiner Tochter zuschreit, aus dem Weg zu gehen – denn dann rennt ein gewaltiger Stier die Leiter um.«
»Ein Stier?«
»Ein großer, weißer Stier mit roten Ohren. Mehr ist über ihn nicht bekannt, denn er lief davon, nachdem er die Leiter umgeworfen und auf dem Wege Fortunatus zu Boden befördert hatte. Fortunatus hatte von da an entsetzliche Rückenschmerzen, und weil er sich in Priscas Hände begab, um sie wieder loszuwerden, kostete ihn die Behandlung ein Vermögen … Das hätte ich ihm vorher sagen können, aber abgesehen von der Buße, die er fordert, will er nun selbstverständlich auch dieses Geld ersetzt haben.«
»Und seinen bestickten Mantel«, setzte Oshelm hinzu, »denn dessen Ärmel ist an einem Zweig hängen geblieben und gerissen. Die Kosten übersteigen die für die Ärztin, denn er will ihn zwölf Tagesreisen östlich von hier gekauft haben, so dass er jetzt nur schwer zu ersetzen sei.«
»Von einem echten Barsakhanen, Oshelm!«, ergänzte Wulfila. »Vergesst nur den ›echten Barsakhanen‹ nicht! Er hat mich drei Mal gefragt, ob ich das auch gut festgehalten hätte!«
Die beiden begannen wieder zu lachen.
»Nur steht Aussage gegen Aussage«, schloss die Richterin. »Fortunatus hat nichts gesehen, der ist nur umgeworfen worden. Seine beiden Mägde schwören, der Stier sei nicht von irgendwoher gekommen, sondern aus dem alten Mithraeum, das heute zu einem Lagerschuppen für Gartengeräte beider Seiten heruntergekommen ist. Remigius habe kurz vor dem Sturz ihres Herrn eine verdächtige Handbewegung zum Eingang des Mithraeums, der von den Gärten aus zu sehen ist, gemacht – deshalb sei es ganz sicher ein Zauberstier oder Geist gewesen, beschworen, um den armen Herrn Fortunatus zu töten, zu verstümmeln oder sonstwie zu schädigen! Remigia sieht das aber ein bisschen anders. Sie verweist darauf, dass jenseits des Mithraeums ein gewisser Heribert eine Weide hat, auf der er seinen weißen Zuchtbullen hält, der schon mehr als einmal ausgebrochen sei – der sei es also gewesen. Heribert seinerseits behauptet steif und fest, sein Stier sei nicht an der Angelegenheit beteiligt, kann aber keine Beweise beibringen. – Soll heißen, wir können mit dem Zauberer nur etwas werden, wenn er brav gesteht. Bisher hat er aber nur gesagt, es sei alles so schnell gegangen, dass er den Stier nicht erkannt hätte, und überhaupt wäre er vor Schrecken ganz verwirrt gewesen. Wenn es dabei bleibt, werde ich mir stundenlang anhören müssen, wie all diese Leute einander beschimpfen, und kann doch nichts ausrichten.«
»Remigius wird auch weiter den Mund halten«, vermutete Wulfila, der wohl mit ausreichender Erfahrung gesegnet war, was das richtige Verhalten in Fällen betraf, in denen nicht mehr als ein unbeweisbarer Verdacht vorlag.
Dennoch sollte er sich irren. Der Zauberer hatte wohl doch ein schlechtes Gewissen bekommen, denn nachdem Fortunatus seine Anklage noch einmal vorgetragen hatte, senkte Remigius, als Herrad ihn aufforderte, sich dazu zu äußern, den Kopf und begann: »Es ist nicht sehr schwer, einen
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