Tricontium (German Edition)
hätte lieber in Odilos Badehaus in Aquae im warmen Wasser gelegen, als in diesem gottverlassenen Trümmerhaufen auf Dächern herumzusteigen. Sie würde den einen Menschen, der nicht anzunehmen schien, dass sie gerade dabei war, tatsächliche oder eingebildete Gespenster herauszufordern, nun gewiss nicht abweisen.
Wulfila lachte, doch sein Auge blieb ernst. »Es war besser als unsere erste Begegnung miteinander, das werdet Ihr eingestehen. – Nein; die dort unten müssen wahrhaftig nicht hören, was ich Euch zu sagen habe. Es würde ihre Geisterfurcht nur noch verstärken.«
Der Wind hatte einige Haarsträhnen aus Herrads Frisur gelöst und trieb sie ihr nun beständig ins Gesicht. »Ihr wollt mir doch nicht etwa erzählen, dass Euch das allseits gefürchtete Gespenst begegnet ist?«
»Nein.« Wulfila stützte sich an einer der Dachsparren ab. »Mir ist zwar schon eines begegnet, allerdings nicht hier, und das tut jetzt auch nichts zur Sache … Aber etwas Seltsames habe ich doch entdeckt, in der kleinen Kirche bei der Linde dort.«
Der Baum, auf den er wies, wuchs unmittelbar westlich des alten Markgrafenhofs und hatte die Zerstörungen ringsum unbeschadet überstanden. Gleich daneben befanden sich die efeuberankten Mauern dessen, was einmal eine Kapelle gewesen war. Herrad hatte die Ruine gleich nach ihrer Ankunft in Tricontium erkundet. Unter den jämmerlichen Trümmern lag eine unzerstörte Krypta, in der aber nur zwei Sarkophage standen, über denen eine schöne Inschrift daran erinnerte, dass Herr Otachar die im Barsakhanensturm beschädigten Gräber des Markgrafen Helmold und seiner Gemahlin Severa wieder habe herrichten lassen. Sonst war außer Schmutz und dem hereingewehten Laub mehrerer Jahre nichts dort zu finden gewesen. In der vergangenen Nacht war sie allerdings nicht selbst hinuntergestiegen, um sich zu überzeugen, dass sich kein vorgeblicher Geist dort versteckt hielt. Sie war davon ausgegangen, dass irgendjemand es schon getan haben würde, aber wahrscheinlich hatte ihren Leuten nach dem seltsamen Vorfall der Mut gefehlt, sich in die Nähe der Gräber zu wagen. Vielleicht war der Angreifer dort gewesen und hatte Spuren hinterlassen.
»Ich war eben unten in der Krypta«, fuhr Wulfila fort. »Jemand ist hingegangen und hat die Sarkophage aufgebrochen.«
»Gut«, sagte Herrad mit einem Nicken; langsam begann sie zu ahnen, was sich am Vorabend abgespielt haben mochte. »Oder vielmehr, nicht gut. Aber es erklärt den Geisterspuk. Es hat wohl jemand mit einer gewissen Begabung für Feuerzauber für Ablenkung gesorgt, um uns beschäftigt zu halten, während andere sich in der Krypta zu schaffen gemacht haben. Nicht sonderlich ungewöhnlich … Ihr ahnt nicht, wie häufig man jemanden vor mich bringt, der in Aquae ein altes Römergrab geplündert oder sich gar an Grabstätten aus neuerer Zeit vergriffen hat! Es wundert mich allerdings, dass Grabräuber sich in diese öde Gegend wagen und sich ausgerechnet an einem Grab versuchen, das schon von den Barsakhanen ausgenommen worden ist.«
»Ihr werdet Euch gleich noch viel mehr wundern«, erwiderte Wulfila und warf einen beiläufigen Blick in den Winkel hinter der Scheune hinunter, wo Wulfin mit Gjuki auf dem Arm ruhig wartete. »Solche Leute stehlen gewöhnlich auch etwas, nicht wahr? Dagegen hat sich hier zwar jemand die Mühe gemacht, zwei schwere Steinplatten zu bewegen, aber mitgenommen hat er nichts, kein Stück, wie es aussieht.«
»War denn überhaupt noch viel da, wenn die Barsakhanen sich seinerzeit schon mit den Gräbern befasst hatten?«, fragte Herrad zweifelnd.
Wulfila winkte lächelnd seinem Sohn zu, der inzwischen aufgesehen hatte. »Was die Barsakhanen oder andere getan haben, spielt keine Rolle, denn Herr Otachar war nun einmal keiner von denen, die glauben, dass man ganz nackt ins Jenseits hinübergeht … Ein Christ war er ja auch nur dann, wenn es ihm gerade passte. Jedenfalls war er großzügig und hat das Gestohlene ersetzt, es sei denn, es ist im Barsakhanensturm ohnehin nur zu einer Beschädigung der Särge und nicht zu einem Raub gekommen. Da unten sind jedenfalls ein goldener Stirnreif für Herrn Helmold und ein schöner Kelch für Frau Severa, gar nicht zu reden von den Kleinigkeiten, die man leicht hätte einstecken können, Ketten, Ringen und dergleichen mehr, genug Gold, um davon lange Zeit sorgenfrei leben zu können. Und doch hat derjenige, der sich der elenden Plackerei unterzogen hat, die Deckel zu entfernen, sich
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