Trieb: Paul Kalkbrenner ermittelt. Bd. 3 (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)
lockiges, schulterlanges Haar, einen schiefen Schnurrbart und trug eine Trachtenuniform, wie sie zu Feiertagen auch in Taboris Dorf Tradition war. Normalerweise hätte Tabori sich nicht daran sattsehen können, weil die Kleidung Erinnerungen an seinen Opa wachrief, der selber einen stattlichen Festanzug besessen hatte, aber jetzt hielt er Ausschau nach Aidan.
Er brauchte eine Weile, bis er in dem Irrgarten aus Beinen und Hüften, Hosen und Röcken, Winterstiefeln und Lederschuhen zurück zum Eingang der Einkaufspassage gefunden hatte, doch auch hier war weit und breit nichts von Aidan zu sehen.
Selbst der Polizist und die rumänische Bande waren nicht mehr zu entdecken, was aber bedeuten konnte, dass diese Typen ihm immer noch in irgendeinem der umliegenden Hauseingänge auflauern konnten. Es war schwer, in so einer großen Stadt den Überblick zu behalten. Hinzu kam, dass der Wind die Schneeflocken wie Konfetti durch die Straßen trieb.
Tabori ging wieder in der Galerie in Deckung, wo der Sänger gerade seinen Auftritt beendete. Die Menge vor der Bühne lichtete sich bis auf wenige Damen, die um Autogramme bettelten.
Der verführerische Duft von Essen stieg in Taboris Nase, und er prüfte den Inhalt seiner Jackentasche. Keine einzige Münze war ihm geblieben. Noch viel schlimmer aber war das große, klaffende Loch im Stoff. Der Parka wärmte nicht mehr, bot keinen ausreichenden Schutz mehr vor der Kälte des Winters.
Eine neue Jacke, wie eine von denen, die hier zuhauf in den Schaufenstern ausgestellt waren, konnte er sich nicht leisten. Er besaß ja nicht einmal mehr eine Putzausrüstung, um Geld zu verdienen. Aber selbst wenn er seinen Wischer und den Schwamm vor der Zerstörungswut der Jungs gerettet hätte, ihm fehlte schlichtweg der Mut, sich wieder an den Straßenrand zu stellen – zumindest in diesem Viertel. Und wer konnte ihm versichern, dass es an anderen Straßenzügen nicht auch solche Banden gab?
Überhaupt: Wo war Aidan? Hatten die Typen ihn etwa doch noch erwischt? Daran wollte Tabori nicht einmal denken. Er entschied sich dafür, die Gegend nicht eher zu verlassen, bis er seinen Freund gefunden hatte. Vorsichtig riskierte er einen Blick auf die Straße, dann spurtete er los. Je weiter er lief, umso stärker wurde der Eindruck, dass er die verkehrte Richtung eingeschlagen hatte.
»Wo ist
Saturn
,
bitte?«, fragte er eine Passantin, woraufhin die Frau tatsächlich dahin wies, von wo er gekommen war.
Tabori kehrte also um und hielt unterdessen weiter Ausschau nach Aidan – oder nach potenziellen Verfolgern. Das immer stärker werdende Schneetreiben erschwerte seine Bemühungen. Schützend hielt er sich die Hand vor Augen, weshalb ihm auch die beiden Gestalten, die sich durch das Gestöber auf ihn zubewegten, erst spät auffielen. Fast zu spät. Einer trug Turnschuhe, Jeans und eine Jacke von Nike,
der andere hatte Armeeklamotten an. Auf seiner Hand prangten Tätowierungen.
52
Wie dicke Schneemänner, denen Leben eingehaucht worden war, stapften die Kriminaltechniker in ihren weißen Einwegoveralls um ein Pavillonzelt herum, das man über dem Tatort errichtet hatte. Dr. Wittpfuhl trat aus dem Schutzbereich und ließ einen Regenschirm aufschnappen, den die erste Windböe sofort auf links kehrte. »Beschissenes Wetter«, kommentierte der Gerichtsmediziner. »Man sollte meinen, die Leute blieben daheim vor der Heizung – und dann
das
!«
»Und was ist das?«, fragte Kalkbrenner.
»Habe ich alles schon Ihrem Kollegen erklärt.«
»Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«
»Auch darüber weiß Herr Berger bereits Bescheid.« Der Arzt klappte unter Flüchen seinen nutzlos gewordenen Schirm zusammen. Nasse Schneeflocken verfingen sich in seinem Haar. »Nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich sehe lieber zu, dass ich zurück ins Warme komme.«
Kalkbrenner entdeckte Berger und Muth vor dem Eingangsportal der Kirche, wo sie sich mit einem Mann im Talar unterhielten, dessen verzweifelte Stimme in diesem Moment über den Vorplatz hallte: »Warum denn bloß hier?«
Kalkbrenner hatte eine Ahnung. An Bergers Miene konnte er erkennen, dass es seinem Kollegen nicht anders erging. Muth löste sich aus dem Trio und steuerte auf Kalkbrenner zu. Sie schien ihm seine Verärgerung anzusehen, denn sie deutete ein entschuldigendes Achselzucken an.
Ich kann nichts dafür.
»Der Pfarrer der Gemeinde hat die Leiche vor ungefähr anderthalb Stunden entdeckt, als er zur Andacht in seine Kirche wollte. Die
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