Trieb
gingen in einem dunklen Hauseingang in Deckung, als sich zwei weitere Kinder dem Laden näherten. Als sie ihn betraten, gaben sie für zwei, drei Sekunden den Blick in den Raum frei. Ein gutes Dutzend Kinder gruppierte sich um einen Fernseher, ein Sofa und – schon fiel die Tür wieder ins Schloss.
»Gehen wir rein!«, beschloss Kalkbrenner, und Muth nickte.
Sie fanden sich in einem großen Zimmer wieder, das früher wohl zu einem Café oder Restaurant gehört hatte. Jetzt war daraus ein gemütlicher Aufenthaltsraum mit roter Farbe an den Wänden entstanden. Die Jungen fläzten sich auf dem Sofa, während auf dem Fernsehschirm vor ihnen ein Pornofilm flimmerte. Andere vergnügten sich ein Stück weiter an einer PlayStation,
und in der hinteren Ecke machten gerade zwei Joints die Runde. Als sie die Polizisten bemerkten, erstarrten die Kiffer in ihrer Bewegung. Ein Moment der Stille trat ein. Nur das wilde Keuchen der Pornodarsteller auf der Mattscheibe, untermalt vom Fiepen der Spielkonsole, war zu hören.
Dann brach ein Tumult aus. Die Jugendlichen sprangen panisch auf und spurteten zur Hintertür, durch die sie in einen Garten türmten. Kalkbrenner wollte sie daran hindern, aber eine weitere Tür, die in ein kleines Nebenzimmer führte, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Der Raum war leer – bis auf ein Bett und einen kleinen Jungen, der im Liegen am Reißverschluss seiner Hose herumnestelte.
Das einzige Fenster des Zimmers war offen, die Gardinen blähten sich im eisigen Wind. Es zeigte ebenfalls raus zum Hof, an dessen hinterem Ende Kalkbrenner eine Gestalt über die Gartenmauer klettern sah. Er war sich sicher: Das war kein Kind. Das war ein Mann.
Während Muth schon spurtend den Garten durchquert hatte und die Mauer überwand, drehte sich Kalkbrenner zu dem Jungen auf dem Bett um.
135
»Ist doch alles halb so wild«, beruhigte ihn Georg, während er sich auf dem breiteren der beiden Wohnzimmersofas niederließ. »Wir beide machen uns einen schönen Abend, in Ordnung?«
Verloren stand Tabori im Raum.
»Magst du etwas essen?«
Der Hunger von vorhin war ihm gründlich vergangen. »Nein.«
»Trinken?«
»Keinen Durst.«
»Möchtest du PlayStation
spielen?
Street Soccer?
Ich liebe
Street Soccer.
«
»Nein. Ich habe schon gespielt.«
Georg nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. »Was meinst du? Wollen wir uns einen Film anschauen?«
»Mama sagt: Filme sind …«
»Jetzt hör mal, sehe ich aus wie deine Mama?«
»Nein«, gestand Tabori.
Georg lachte. »Möchtest du nicht fernsehen?«
»Weiß nicht.«
»Herrje, dann sag mir einfach, was du willst.«
Aber das Einzige, was Tabori wollte, war eine Antwort. »Wo ist Ryon?«
»Wer ist Ryon?«
»Mein Cousin, du weißt das.«
»Ach so, der. Ja, darum kümmere ich mich.«
»Heute?«
Georg zappte durch die Fernsehsender. In einer Talkshow keiften sich Menschen an. »Nein, heute nicht mehr.«
»Aber du hast gesagt, du …«
»Ich?« Georg sah ihn entrüstet an. »Ich habe gar nichts gesagt.«
»Ludwig hat.«
»Ja, ja, der gute Ludwig.« Georg lachte schallend. »Der erzählt viel, wenn der Tag lang ist.«
»Aber wo ist Ryon? Kannst du …?«
»Natürlich kann ich. Aber alles braucht seine Zeit.«
»Das hast du gestern auch gesagt.«
»Habe ich das? Nun, kann gut sein.«
Enttäuscht sank Tabori auf die Couch und vermied es, Georg dabei anzuschauen. Der kleine, dickliche Mann war ein seltsamer Typ. Überhaupt nicht nett und aufmerksam. Überhaupt nicht wie Ludwig.
»Willst du nicht deine Jacke ausziehen? Und die Schuhe?«
Tabori legte seinen Anorak zögerlich aufs Sofa und schlüpfte aus den Schuhen.
Georg grunzte zufrieden. »Was hältst du von
Findet Nemo
?«
»Was ist das?«
»Sag bloß, du kennst den Film nicht?« Georg erhob sich und schob eine bereitliegende DVD in den Player. »Den kennt doch jedes Kind!« Auf den Tisch stellte er eine Flasche Cola und zwei Gläser. Zwischen den Zigarettenpackungen, Zeitungen und dem Leergut hatte er Mühe, noch einen freien Fleck zu finden. Knisternd öffnete er eine Tüte Chips und leerte den Inhalt in eine Schüssel. »Greif zu.«
Der Film begann. Es war ein Trickfilm, in dem ein kleiner, aufgeweckter Fisch namens Nemo das Meer erkundete. Dabei verfing er sich unglücklicherweise in einem Fischernetz und landete in einem Aquarium in einer Zahnarztpraxis. Als sich sein besorgter Vater auf die Suche nach ihm machte, lernte er dabei die verschiedensten Leute – oder Fische
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