Trieb
und eilten zum Eingang eines nicht weit entfernten Hochhauses. Im Eingangsbereich hingen die überquellenden Briefkästen dicht an dicht an der einen Wand, gegenüber stapelte sich der Hausmüll.
In der achten Etage erwartete sie Georg an seiner Wohnungstür. Er war noch kleiner, als Tabori ihn in Erinnerung hatte. Ein fleckiger Dreitagebart bedeckte Kinn und Wangen. Das Hemd, dessen obere drei Knöpfe offen standen und den Blick auf seine spärliche Brustbehaarung freigaben, spannte sich über seinen Bauch. »Kommt schnell rein.«
»Sind ja schon auf dem Weg«, meckerte Ludwig.
»Ist euch jemand begegnet?«
»Jetzt mach dich mal locker.«
»Ach, als wenn dich das alles nicht kümmern würde.«
Tabori wurde von Ludwig in Richtung Wohnzimmer gedrängt. Seine Anspannung wuchs, aber der schmale Raum war leer.
Leer.
Wo war Ryon?
Enttäuscht setzte sich Tabori auf eines der beiden Couchelemente, die in die Ecke gequetscht worden waren. An der Wand hing ein flacher Fernseher, der quadratische Glastisch war mit Flaschen, leeren Zigarettenschachteln und einigen Zeitungen übersät.
Ludwig schimpfte mit Georg. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du vor den Jungs nicht so reden sollst.«
»Dich lässt das alles also unberührt, ja? Aber du kannst mir nicht erzählen, dass …«
»Sprich nicht so laut!«
»… seit der Sache mit diesem Manuel …«
»Wenn du damit nicht umgehen kannst, warum steigst du dann nicht aus? Oder machst eine Weile Pause?« Ludwigs Stimme hatte einen drohenden Ton angenommen.
Von irgendwo im Haus dröhnte blechern ein Fernseher. »Du weißt, dass ich das nicht kann«, wisperte Georg.
Tabori strich sich die tauenden Schneeflocken von seinem Anorak. Worüber stritten sich die beiden Männer? Über Jungen? Über Tabori? Oder Ryon? Eins jedoch war ihm klar. Die Schlagzeile auf dem Titelblatt einer der Zeitungen auf dem Tisch brachte ihm traurige Gewissheit.
»Ich kenne Manuel«, rief er.
Ludwig kam sofort zu ihm ins Wohnzimmer. »Was weißt du über ihn?«
»Haben
Street Soccer
gespielt.
Er war gut. Warum … tot?«
»Wie oft habt ihr euch getroffen?«
Tabori hielt den Zeigefinger hoch. »Eins.«
»Wann war das?«
Tabori grübelte. »Donnerstag.«
Georgs Gesicht tauchte neben Ludwig auf. »Hat er etwas erzählt?«, fragte er.
»Nein. Manuel ist gegangen. Einfach so. Kein Abschied.«
»War er alleine?«
»Nein. Mit Papa. Aber du sagen … warum tot?«
»Es war ein Unfall«, erklärte Ludwig.
In der Nachbarwohnung schrie ein kleines Baby. Sekundenlang lauschten sie dem Plärren. Niemand sagte etwas. Aufmerksam schaute Tabori die beiden Männer an. Was war denn nun mit Ryon? Wo steckte er?
»Ich mach mich dann mal auf den Weg«, sagte Ludwig. »Und du, Tabori, du bleibst erst einmal hier.«
»Warum?« Tabori war nicht wohl bei dem Gedanken.
»Damit ihr euch besser kennenlernt, du und Georg.«
»Wie lange?«
»Bis ich dich wieder abhole.«
»Heute Abend?«
»Nein, nicht heute Abend.«
Tabori war verwirrt. »Wann?«
»Bald.«
»Aber ich will bei dir …«
»Georg wird sich ab jetzt um dich kümmern.«
Tabori wurde schlecht. »Warum?«
Ludwig hockte sich vor ihm in die Knie und hielt Tabori an den Schultern fest. »Ich wünschte wirklich, es wäre anders, aber ich muss für einige Tage verreisen. Wegen der Arbeit. Das verstehst du doch.«
»Ich kann doch alleine in … Wohnung.«
»Und was ist, wenn es dir wieder schlecht geht? Wer kümmert sich dann um dich?«
»Ich … vorsichtig.«
»Trotzdem, ich würde mir Sorgen um dich machen.« Lächelnd strich er Tabori durchs Haar. »Dann könnte ich nicht richtig arbeiten. Geld verdienen. Die Zeit mit dir hat mich sehr viel Geld gekostet – allein dein Radio heute Morgen. Das ist dir vermutlich nicht klar, oder?«
»Dann geben wir Radio wieder …« Tabori biss sich auf die Unterlippe. Er konnte das Gerät nicht mehr zurückgeben. Er hatte es zerstört, aber das konnte Ludwig natürlich nicht wissen.
»Auf gar keinen Fall. Ich mache dir gerne Geschenke, weil ich weiß, dass es dich freut.« Ludwig stand auf und schaute auf Tabori hinab. »Aber du musst auch verstehen, dass ich noch andere Verpflichtungen habe.«
Daran hatte Tabori tatsächlich kein einziges Mal gedacht: Ludwig hatte auch andere Aufgaben. Er konnte sich nicht immerzu um ihn kümmern.
»Freu dich lieber, dass du bei Georg sein darfst«, erklärte Ludwig. »Georg wird sich sehr nett um dich kümmern.« Er öffnete die Wohnungstür. Ein
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