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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Werbeschilder betrachtete, die in Glaskästen auf dem Bahnsteig flimmerten. Alle paar Minuten röhrte eine U-Bahn an ihm vorbei.
    »Schläfste?«
    Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich eine Frau mit zerzaustem Haar, spröden, dreckigen Wangen und ebensolchem Kleid vor ihm. In den Händen hielt sie zwei Plastiktüten. Weil er nicht reagierte, setzte sie sich neben ihn. Sie stank nach Schweiß, Abfall und noch etwas anderem, von dem er gar nicht wissen wollte, was es war. Sein Magen rebellierte. »Geht’s dir gut?«
    Wann immer ihm in Berlin jemand diese Frage gestellt hatte, war danach alles schlimmer geworden. Diesmal würde Tabori schweigen.
    Sie schnaubte, und eine Spur Rotze tropfte aus ihrer Nase. Mit dem Handrücken wischte sie den Schleim weg. »Bist ganz schön nass.«
    Der Boden begann zu vibrieren. Eine Bahn fuhr in die Station ein. Das Dröhnen ging durch Mark und Bein. Tabori hielt sich den Bauch.
    »Haste Hunger?« Auf der braunen Pappschachtel war das geschwungene Emblem von
McDonald’s
zu sehen. »Willste?«
    Tabori drehte sich weg.
    Die Pappschachtel folgte ihm. »Iss was!«
    Burger und Pommes überlagerten den Gestank von Schweiß und Abfall. Seit dem Mittagessen im Fast-Food-Restaurant gestern hatte er nichts mehr zu sich genommen – von den Chips und der Cola bei Georg abgesehen.
    Sie legte ihm die Box in den Schoß. »Jetzt nimm schon.« Weil er noch immer nicht reagierte, versicherte sie ihm: »Ist schon in Ordnung. Schenk ich dir.«
    Zögernd nahm er die halb volle Schachtel mit Pommes und stopfte sich die gelben Kartoffelschnitze einen nach dem anderen in den Mund. Sie waren nicht mehr warm, schmeckten aber trotzdem.
    »Woher hast du Essen?«, fragte er die Frau zwischen zwei Bissen. Sie erweckte nicht den Eindruck, als könne sie sich jeden Tag ein solches Menü leisten.
    »Hab einen Freund bei Donald.«
    »
McDonald’s

    »Der mit den Burgern.«
    »Ein Freund?«
    »Ja.« Sie strahlte und schob ihre schmächtige Brust raus. »Gibt mir immer die Reste, die Kunden übrig lassen.«
    In einem Anflug von Ekel spie Tabori die Fritten aus. Mit der Hand wischte er sich die Lippen, aber das schmutzige Gefühl blieb.
    Entsetzt sprang die Frau auf. »He? Was machst du da? Warum spuckst du das Essen aus? Bist wohl wahnsinnig!« Sie entriss ihm die Fritten-Schachtel und stopfte sie zurück in die Plastiktüte. »Bist wohl wahnsinnig!«, wiederholte sie. Als sie ihn wieder anschaute, glänzten Tränen in ihren Augenwinkeln.
    Wie sie so dastand in ihrem zerschlissenen Kleid, mit dem wirren grauen Haar, gebeugt wegen ihrer steifen Knochen, tat sie Tabori leid. Für sie waren die von anderen verschmähten Fritten und Burger ihr täglich Brot, wahrscheinlich eher ein fürstliches Mahl.
    Sie hockte sich zurück auf die Bank. Ihr Kleid entblößte zerschlissene Schuhe und nackte Füße. Die Zehen waren schwarze, tote Stümpfe.
    »Is’ kalt draußen«, verkündete sie trotzig, bevor sie das Kleid wieder über ihre Füße drapierte. »Passiert schnell.«
    Auch Taboris Schuhe waren nass, die Zehen von der Kälte ganz taub. Beim Gedanken, dass er wie die Frau alleine in der Stadt war, hilflos, frierend, ohne Geld und angewiesen auf Geschenke, Almosen und die Abfälle anderer Leute, bekam er Angst. Er ekelte sich – auch vor sich selbst.
    »Was ist?«, fragte sie. »Ist doch was, oder?«
    »Will nach Hause.«
    »Und was machst du dann noch hier?«
    »Kein Geld.«
    »Dann geh zur Bahnhofsmission.«
    »Was ist das?«
    »Dort hilft man dir, mir, jedem.« Sie zog die Nase hoch und spuckte einen Brocken Schleim auf den Boden. »Ist am Bahnhof Zoo.«
    Die Fast-Food-Reste, die schwarzen Stümpfe, Tabori verstand nicht. »Warum du
nicht bei Bahnhofsmission?«
    »Willst du nun Hilfe oder nicht?«, schnauzte sie ihn an.
    »Ich will.«
    »Siehst du, ich will nicht. Und jetzt geh.«
    Eine Bahn fuhr ein. Ihre Türen öffneten sich.
    »Und jetzt fahr nach Hause. Zu deiner Familie. Die hast du doch, oder?«
    Ja, die hatte er tatsächlich. Wie hatte er nur so töricht sein und sie vergessen können? So ärmlich sein Leben in Gracen auch gewesen war, er liebte seine Familie, Mutter, Mickael, auch Gentiana, Florim und all die anderen. Keiner von ihnen wollte ihm etwas Böses. Niemand konnte sie ersetzen – noch nicht mal mit Hunderten von Geschenken.
    Das Türsignal hallte durch die Station. Kurzentschlossen spurtete Tabori über den Bahnsteig und schlüpfte gerade noch rechtzeitig zwischen den sich schließenden

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