Triestiner Morgen
extra lange Zeit und bewundere mich noch eine Weile im Spiegel. Das Kleid sitzt wie eine zweite Haut. Der tiefe Ausschnitt enthüllt die Schwellung meiner straffen Brüste, der weiche Stoff betont meine schlanke Taille und schmiegt sich eng an meinen Hintern.
Erst gegen halb eins verlasse ich Enricos Wohnung. Damit er mir heute Abend nicht wieder einen Vortrag über Leichtsinn und Fahrlässigkeit hält, sperre ich ordentlich ab. Seine Ängste sind absolut lächerlich. Für einen Einbrecher ist seine Wohnung ohne jedes Interesse. Was sollte er schon mitgehen lassen, die Pendeluhr vielleicht? Dagegen hätte ich bei Gott nichts einzuwenden! Vielleicht sollte ich sie dem alten Kosic anbieten? Keine besonders gute Idee. Enrico schaut fast täglich auf einen Sprung bei ihm unten rein. Michele müßte mir versprechen, die Uhr einstweilen gut zu verstecken und möglichst bald einen Käufer dafür aufzutreiben. Aber ich fürchte, das wäre zuviel von ihm verlangt.
Komisch, daß der Junge so an Enrico hängt, er himmelt ihn richtiggehend an. Es grenzt beinahe schon an Götzenverehrung. Sowas ist jedenfalls nicht normal. Ich wundere mich, wie er es schafft, mit mir zu schlafen. Wahrscheinlich hofft er, seinem geliebten Enrico ein Stückchen näher zu sein, wenn er die Frau mit ihm teilt.
Auch Enrico mag ihn gern, bezeichnet ihn sogar manchmal als seinen besten Freund, obwohl er fast sein Sohn sein könnte.
Wenn man bedenkt, daß er gerade erst zwanzig geworden ist ... Anscheinend fange ich schon früh an, mich für jüngere Männer zu begeistern, normalerweise sagt man diese Vorliebe doch etwas älteren Damen nach.
Wenn ich an Michele denke, gerate ich ins Schwärmen. Der Junge ist einfach umwerfend schön. Ich bin richtig vernarrt in seine breiten Schultern, seinen kleinen, festen Hintern und in sein langes, schwarzes Haar, das er meist straff nach hinten kämmt und zu einem Pferdeschwanz bindet. Seine sanften, blauen Augen wirken dann riesig groß in dem schmalen, blassen Gesicht. Manchmal trägt er eine schwarze Hornbrille. Mit der Brille sieht er wie ein richtiger Intellektueller aus.
Wenn er bloß nicht immer wieder diese Stimmen hören würde. Sind schon komische Geschichten, die er erzählt. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit prophezeit er uns den baldigen Weltuntergang und hält sich selbst für den Auserkorenen, den Erlöser höchstpersönlich, der uns alle vor der ewigen Verdammnis retten wird. Wenn man es genau nimmt, ist das Gotteslästerung.
Giorgio und Livio lachen sich halbtot, wenn er diese Zustände bekommt. Aber Enrico erkundigte sich bei einem Arzt, wie man sich am besten verhalten sollte. Seither versuchen wir beide Michele zu verstehen und tun so, als würden wir ihn ernst nehmen. Zum Glück hat er nicht allzu oft diese Halluzinationen.
Leider wird er während eines solchen Schubes auch manchmal aggressiv. Obwohl er nie anderen Menschen gegenüber handgreiflich wird, sondern seine Wut nur an toten Dingen ausläßt, fürchtet sich der Kosic dann vor ihm. Meistens ruft er Enrico zu Hilfe, allein wird er mit dem besessenen Michele nicht fertig.
Einmal war auch ich dabei, als er so einen Anfall hatte. Enrico meinte, meine Anwesenheit würde sich beruhigend auf Michele auswirken, doch das Gegenteil war der Fall. Er drehte nur noch mehr durch, fing an, im Laden alles kurz und klein zu schlagen, und ich ergriff rasch die Flucht.
Kosic nahm Michele, nach dem Tod seiner Eltern, zu sich und zog ihn auf. Er kümmert sich wirklich wie ein Vater um ihn. In letzter Zeit bringt er Michele immer, wenn er diese fremden Stimmen hört, zu einem Psychiater. Der Seelendoktor versorgt ihn mit Tabletten und nach einer Weile geht es ihm wieder besser, aber leider verschwinden diese Stimmen nicht endgültig.
Vielleicht ist dieses Stimmenhören gar nicht so schlimm? Ich höre ja auch manchmal die Stimme meiner Mutter, höre ganz genau den gemeinen Unterton, wenn sie mich säuselnd ermahnt, meine Schönheit nicht an jeden dahergelaufenen Idioten zu verschwenden.
Ausnahmsweise funktioniert heute einmal der Lift. Ich schließe mit mir selbst Wetten ab. Heute habe ich verloren. Ein schlechtes Omen? Wahrscheinlich ist Michele noch gar nicht im Laden. Nach dem gestrigen Abend würde es mich nicht wundern, wenn er jetzt noch im Bett liegen und von meinem Hintern träumen würde.
Enrico schlendert zurück zur Busstation. Der Himmel ist grau, aber vereinzelt wagen sich bereits Sonnenstrahlen durch die dunklen Wolkenfetzen. Auch
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