Triestiner Morgen
der Wind hat nachgelassen.
Während er auf den Bus wartet, zählt er das Geld in der Brieftasche. Dreihunderttausend Lire. Ob Giorgio immer soviel Geld bei sich zu tragen pflegte? Oder hat er damit gerechnet, mir mit einer hübschen Summe unter die Arme greifen zu müssen?
Enrico schenkt auch dem rührenden Familienfoto einen kurzen Blick. Die fürsorgliche Hand einer kleinen Frau, die die Sorgen des Tages hinwegwischt, der süßliche Schimmer von Liebe und Vertrauen, der aus den Gesichtern der kleinen Kinder spricht ...
Er steckt das Geld in seine Hosentasche und wirft die Brieftasche, samt Kreditkarten und heiler Familie, auf den Müll.
Etwas Graues, Unförmiges bewegt sich zwischen den Abfällen hinter dem Parkplatz. Ein großer, streunender Hund? Eine gebückte Gestalt? Enrico läßt seinen Koffer bei der Haltestelle stehen und nähert sich vorsichtig dem Müllhaufen.
Eingefallene Wangen und schulterlanges, helles Haar. Aus der Entfernung kann er nicht erkennen, ob es sich um das Gesicht einer Frau oder um das Gesicht eines Mannes handelt.
Er tastet nach dem Messer in seiner Manteltasche und macht sich wie ein professioneller Landstreicher über den Müll her. Kühlschränke, Ölfässer und jede Menge Bauschutt — das seltsame Wesen scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.
Keineswegs beruhigt, kehrt er zur Busstation zurück, schlägt sein kleines, schwarzes Notizbuch auf und streicht sowohl Giorgios als auch Livios Adresse und Telefonnummer mit einem dicken Kreuz durch. Leberzirrhose und gerade erst fünfzig geworden, der arme Kerl!
Die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben, geht er auf dem Parkplatz auf und ab, bewundert Giorgios roten Lancia und ärgert sich, daß er ihn nicht benützen kann. Was für ein flotter Wagen! Auch er hat früher für schicke Autos viel übrig gehabt.
Immer wieder schaut er auf seine Armbanduhr. Der Bus ist, laut Fahrplan, längst überfällig. Er sieht noch einmal auf der Tafel nach und bemerkt erst jetzt, daß dieser Bus nur werktags fährt. Fluchend macht er sich zu Fuß auf den Weg.
Weit draußen zieht ein Öltanker vorbei. Und hinter den Industrieanlagen taucht immer wieder die Silhouette der billigst aus dem Boden gestampften Betonkästen aus dem Nebel auf.
Zerrissene Konterfeis längst vergessener Politiker lächeln von den abbröckelnden Mauern der leerstehenden Häuser. Auch die Werkshallen scheinen dem Abbruch preisgegeben. Die Fenster sind blind und geborsten, und die vergilbten Firmenschilder traditionsreicher Versicherungsgesellschaften lassen sich kaum mehr entziffern.
Plötzlich erblickt er, halbverborgen hinter einem Stapel von alten Schildern, wieder dieses weiße Gesicht. Als sich Enrico dem Schilderberg nähert, verschwindet die unheimliche Gestalt dahinter.
Er schaut um die Ecke. Doch auf der vereinsamten Zufahrtsstraße spielen nur ein paar Ratten. Ein humpelnder Köter vertreibt sie mit seinem heiseren Gebell. Aus riesigen Containern strömt unerträglicher Fäulnisgeruch und vereint sich mit Fischgestank. Bis aufs Skelett abgemagerte Katzen balgen sich um verfaulte Fischköpfe.
»Zwar höre ich keine Stimmen wie der arme Michele, aber ich sehe schon überall Gespenster — ich frage mich, was schlimmer ist«, murmelt Enrico, geht langsam weiter, dreht sich aber alle paar Sekunden um.
Verfallene Häuser, Gerippe aus Eisen und Stahl, unzählige Bauhütten, deren blecherne Wände mit verzweifelten Parolen und obszönen Zeichnungen beschmiert sind. Die Erde am Straßenrand ist aufgeweicht. Seine gepflegten, schwarzen Halbschuhe sind bald voller Dreck, auch sein Mantel bekommt braune Spritzer ab.
Die wenigen Schiffe, die hier vor Anker liegen, sehen nicht danach aus, als ob sie jemals wieder auslaufen würden. Verrostete Kräne recken sich bedrohlich gegen den bedeckten Himmel. Und die ausrangierten Fischkutter in den stillgelegten Werften benötigen auch keinen neuen Anstrich mehr.
Er verläßt das unwirtliche Gelände, schreitet jetzt schneller aus, fühlt sich aber nach wie vor verfolgt, und ist sich jetzt beinahe sicher, daß eine alte Frau hinter ihm her ist.
Erst als er sich zwischen den Lastwagen, die am Punto Franco Nuovo auf ihre Abfertigung warten, durchschlängelt, scheint es ihm gelungen zu sein, seine Verfolgerin abzuschütteln.
Der Punto besticht nicht gerade durch Eleganz. Ausladende Molen, häßliche Gebäude, breite Magazine und große, plumpe Frachter. Aus den Kabinen der schweren Lastwagen dringt fremdländische
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