Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
buddhistischen Mönche, die hier lebten. Ebenfalls infiziert. Das HIV-Virus war bereits ausgebrochen, aber der 35-Jährige konnte noch für sich selbst sorgen, sah noch nicht wie die stelzendünnen Wracks im Hospiz aus. Er sprach gut Englisch, erzählte von den billigen Huren und seiner Nachlässigkeit mit Kondomen. Wir redeten und meditierten. Und irgendwann liefen ihm die Tränen über das Gesicht. Es war der Augenblick, so berichtete er später, in dem ihm wieder mit aller Intensität bewusst wurde, dass er bald sterben würde. Natürlich heulte ich mit. Und natürlich konnte ich ihn nicht trösten, wirklich trösten, denn sein frühes Ende schien unvermeidlich. Aber ich durfte mich neben ihn setzen und die rechte Hand auf seinen Rücken legen. Es war wie ein Ritual, das uns erleichterte und gleichzeitig das Heulen verstärkte.
19 Uhr, day five discourse , das Leben wird leichter. Man darf den Rücken an eine Wand lehnen, sich mit Decken einpacken und diesem wunderlich gütigen Goenka zuhören. Wie er von unseren Verstrickungen, Lüsten und Versuchungen erzählt. Und von der Weisheit Vipassanas, die uns lehren soll, sie alle loszulassen.
Ich will niemanden langweilen mit der bereits abgelegten Beichte, dass ich für derlei heroische Kraftakte nicht zu haben bin. Aus eingestandener Schwäche, Geistesschwäche, Fleischesschwäche. Gut, Buddha sagt: »Life is misery«. Wie wahr, jeder von uns – ob aidskranker Buddhist, jungfräuliche Christen-Nonne oder der von allen guten Geistern verlassene Atheist – weiß es. Und jeder kennt auch den Satz von Gérard Depardieu: »La vie, c’est le désir«, das Leben, das ist die Sehnsucht. Man kennt den Satz, auch wenn man ihn noch nie gehört hat. Summa summarum: Wir behalten das Leid. Und wir behalten die Sehnsucht, mit dem Leid fertig zu werden. Deshalb lechze ich nach Schönheit, nach Ebenmaß, nach Formen und Klängen, nach Sprache und Musik, nach Haut und Liebeskunst. Damit sie mich nähren in jenen Augenblicken, in denen das Leid mich heimsucht und kein Klang und kein Blick mich ermutigen.
SECHSTER TAG
Mein gefühltes Alter liegt bei etwa dreihundert. Das hat wohl mit den dreißigtausend Stunden Schlaf zu tun, die mir fehlen. Heute sind es wieder zwei oder drei, die ich meinem Körper raube. Ich kann mich an keinen Tag meines Lebens erinnern, an dem ich nicht mit dem Gedanken aufgewacht bin, dass ich etwas versäume, wenn ich liegenbleibe. Und diese Manie hat sich eingenistet, unbelehrbar. Und öffnete ich in einem Kuhdorf die Augen, irgendwo zwischen Murmansk und dem Nordpol, und hätte ich bereits am Vorabend erfahren, dass nur Kühe auf mich warteten, kein Schwein, kein Ochse, nichts, auch keine Kuhmagd, ich würde aufstehen und die Kühe besuchen. Ich habe keinen treueren Freund als meinen Leib. Auch wenn er murrt, wie immer, aber dann doch um 4.15 Uhr aufsteht und in die Dhamma Hall trottet.
Wir sind um diese Zeit nur noch ein Drittel. Jeden Morgen werden wir weniger. Ob der Rest pflichtgemäß in der Zelle meditiert, wer weiß. Ihre Fenster bleiben verdächtig dunkel. Bewundernswert. Ich beneide jeden, der sein herrisches Über-Ich überhört.
Doch diese dunklen Stunden, so früh, so leise, verbreiten einen versöhnlichen Zauber. Man sitzt – noch läuft kein Tape mit der Forderung nach letzter Achtsamkeit – und meditiert und spürt, wie ein Tag anfängt, wie das Licht, die Temperatur, die Geräusche zunehmen. Ich schwebe wieder, eine Stunde lang, in der nichts anders sein soll: Sitzen und mit dem Atem den Körper abtasten. Und alles wahrnehmen und nichts festhalten. Jetzt gerade kann ich es. Weil nichts mich bestürmt. Keine Wut hält mich gefangen, kein beklemmender Gedanke, auch keine Vorfreude, nur Freude. Ich öffne kurz die Augen und begreife wieder, wie ästhetisch Vipassana aussieht, wie elegant. Kein Equipment wird verlangt, nur Körper. Sonst nichts.
Ich habe schon angedeutet: Jemand entdeckt Meditation, weil er ein Mittel, eine Methode suchte, um die Zahl seiner (künftigen) Verluste zu drosseln. Wer oft genug gegen die Wand gefahren ist, macht sich auf den Weg zu einer Alternative. Wenn er denn entschlossen genug ist. Andere kommen, weil eine heftige Neugier auf ihre Tiefen und Untiefen sie treibt, auf ihre Widersprüche. Meditation als Mittel, um das Superwunder Mensch zu erforschen. Vieles kann motivieren, auch die Kälte einer von Protzsucht vernagelten Gesellschaft. Was die meisten jedoch gemeinsam haben, ist das, was mein japanischer
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