Trinken hilft
mehrprozentige Zuwachsraten, wie ich meinem Reisekatalog entnommen hatte. Ich überlegte, welche der beiden Religionen die größere Opferbereitschaft erforderte, die alte oder die neue? Jedenfalls würde ich, falls ich diese Wallfahrt lebend überstehen sollte, mich nie wieder einem religiösen Zeremoniell ausliefern, da mochte die Neue Kirche der Reiseveranstalter mit noch so verlockenden Verwöhnangeboten werben. Eine Kreuzfahrt bleibt eine Kreuzfahrt.
Die Prozedur des Eincheckens vollzog sich mit chaotisch italienischer Umständlichkeit, das brachte meinen Glauben an eine gesamteuropäische Business-Mentalität sehr ins Wanken. Wie war es den alten Römern gelungen, ein Weltreich zu gründen, von der Themse bis an den Nil? Vielleicht hatten sie Gastarbeiter für die Verwaltung. Gab es die Preußen damals schon? Cherusker gab es, aber waren das nicht Wilde, die sich mit grausigem Met berauschten? Jedenfalls waren sie siegreich. Auch ich war siegreich. Irgendwie landete ich in meiner Kabine Nummer 8051, landete auf einem wolkenweichen Bett, das mich Gestrandeten aufnahm wie die Insel der Kalypso den verirrten Odysseus. Auf dem Nachttisch eine Schale mit Obst und ein Cocktailglas mit einem lemonfarbigen Willkommensdrink, ich war bekehrt. Ich wollte die Kabine nie wieder verlassen. Ich schloss die Augen.
Eine Ewigkeit später – oder waren es nur Sekunden? – wurde das himmlische Gefühl durch einen markerschütternden Höllenton unterbrochen, das Signalhorn für die Abfahrt, wie ich aus den minimalen Vibrationen aus unergründlichen Tiefen und einem Blick auf die Digitalanzeige der das Bett flankierenden Armaturen folgerte. Punktgenau 18 Uhr, das hätte ich den Italienern nicht zugetraut. Schon schämte ich mich für das rassistische Vorurteil und meine Zweifel am Römischen Weltreich. Schämen sollte ich mich noch öfter auf dieser Reise, aber das ahnte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht.
Dem Basston des Nebelhorns folgte alsbald eine Ansage in drei Sprachen mit der Ankündigung, dass in einer halben Stunde eine für alle verpflichtende Evakuierungsübung stattfände. Jeder habe sein im Kabinenschrank befindliches Life-Jacket mitzubringen. Die Übung, so stellte sich heraus, wurde von den meisten als reine Routine erachtet. Dazu verführten auch die samtweichen Stimmen der Hostessen, die mit ihrem engelgleichen Aussehen eine Unsterblichkeitsgarantie verhießen, denn diese Luxusliner gelten als unsinkbar wie einst die Titanic. Ich hingegen neige zur Ängstlichkeit und konnte nicht verhindern, dass mich trotz des Dauerlächelns der Vorführdame zum ersten Mal an Bord ein morbides Gefühl von Vergänglichkeit beschlich. Unmittelbar nach dieser Übung wurde das Dinner serviert, das war geschickt getimt und zeugte von der Professionalität der Verantwortlichen. So konnte sich das Gefühl von Morbidität gar nicht erst manifestieren.
Das Dinner war à la carte und fand in zwei Schichten statt. Ich hatte mich schon im Vorfeld, bei der Buchung, wie die meisten Deutschen, Engländer und Skandinavier für die erste Schicht entschieden. Ein guter Entschluss, wie ich noch feststellen sollte. Denn die zweite Schicht rekrutierte sich hauptsächlich aus Franzosen, Italienern, Russen, allesamt geschwätzig, laut nach den Kellnern brüllend und mit Tischmanieren wie zu Zeiten der Cherusker. Wenn sie mit vollem Bauch ihr Schlachtfeld verließen, war jedes Mal eine Renovierung der Restaurants nötig. Wer glaubt, so ein Luxusliner mit Gästen aus aller Welt würde zur Völkerverständigung beitragen, der täuscht sich. Das Gegenteil ist der Fall. Klischees bewähren sich, Vorurteile verhärten sich. Man kommt sich einfach zu nahe. Man kann nicht ausweichen, außer in seine Kabine, und dafür latzt man nicht ein Monatsgehalt.
Der Omnipräsenz des lückenlosen Entertainments sind die wenigsten gewachsen, das macht unterschwellig aggressiv. Aber sich zurückziehen, auf irgendetwas zu verzichten in diesen wenigen Tagen, das kann man sich nicht leisten. Nicht nur, um aus dem bezahlten Geld das Äußerste herauszuholen, sondern auch in Hinblick auf die eigene knappe Lebenszeit. Die Rentner fürchten jedes Mal, es könnte die letzte Kreuzfahrt sein. Wer wollte sich mit dieser Perspektive im stillen Kämmerchen vergraben, wenn draußen nonstop die Show abging. Dem Tod ein Schnippchen schlagen heißt die unausgesprochene Losung.
Schier unübersehbar ist der Veranstaltungskalender mit seinem Spiel- und Spaßprogramm, das permanente
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