Trinken hilft
ermittelt noch. Gott hab ihn selig.
Damit endete ihre Geschichte. Wow! Die Story hatte mich zunehmend amüsiert, aber dann, beim Stichwort Polizei, wurde ich nervös. Saß ich neben einer Mörderin? Ich rückte unmerklich von ihr ab. Sie rückte nach und flüsterte mir schelmisch zu: »Keine Angst, mein Lieber, ich beiße nicht, solange Sie mir keinen Ofen aufschwatzen wollen.« Natürlich lag mir nichts ferner, als irgendjemandem einen Ofen aufzuschwatzen. Erst recht nicht, seit die Sonne Piemonts wohlwollend durch die Busscheiben brannte. Mir wurde heiß in meinem Kaschmirrolli, wozu gewiss auch Christas Story beigetragen hatte. Wenn es nun kein Unfall war? Dann hatte sie den Aufzug manipuliert. Wer denn sonst? Ich würde mich vor ihr hüten müssen, auch ohne Ofen. Immerhin war ich nun Mitwisser. Wenn sie erst einmal wieder nüchtern wäre, könnte es sie stören, dass ich ihr Geheimnis kannte, auch wenn sie es mir freiwillig anvertraut hatte. Es war wohl das Beste, ihr künftig aus dem Weg zu gehen, beschloss ich und schenkte ihr noch einmal vom Grappa nach, um den Zeitpunkt ihrer Ernüchterung hinauszuzögern.
Bald darauf rollten wir in Genua ein. Die Mitreisenden packten aufgeregt ihre restlichen Bierdosen ein, als müssten sie im unwirtlichen Norwegen an Land gehen. Der Bus spuckte uns vor einer weißen Wand aus, riesig wie ein Eisberg, auf der in blauen Lettern MS Fortuna zu lesen war, sofern man es schaffte, den Kopf weit genug in den Nacken zu legen, ohne sich einen Nerv einzuklemmen. Um uns herum noch unzählige Busse mit ebenso aufgeregten Passagieren, ein unübersehbares Gewusel von Menschen, die wie Hornissen in einem angegriffenen Nest durcheinanderschwirrten, sich drängelten, stießen, fluchten, sich vielsprachige Hinweise zubrüllten und nach Trägern riefen. Kein Zweifel, ein Krieg war ausgebrochen, und nun war halb Europa auf den Beinen, um sich auf das rettende Schiff zu stürzen, das den Kontinent vor Beginn der Kampfhandlungen verlassen würde. Vor Beginn der Kampfhandlungen war nach Beginn der Kampfhandlungen. Ich ging in dem Geschubse meiner Sonnenbrille verlustig und bekam als Gegenleistung blaue Flecken im Kreuz und eine Quetschung des rechten Mittelfußknochens. Halb so wild. Schusswunden sind schlimmer. Ein Gutes hatte der Krieg für mich. Ich verlor Christa aus den Augen und begegnete ihr erst in Lissabon wieder, aber da erkannte sie mich nicht mehr. Vielleicht lag’s an ihrem Begleiter oder am Vinho Verde. Er hilft uns vergessen, behaupten die Portugiesen. Ich glaube es ihnen.
NIEMALS TROCKEN AUF HOHER SEE
W er eine Mittelmeerkreuzfahrt unternehmen möchte, dem rate ich, sie möglichst bis Ostern anzutreten. Später läuft man Gefahr, einem Hitzschlag zu erliegen, bevor man einen Fuß an Bord kriegt. Jedenfalls in Genua. Genua mag an sämtlichen Wochentagen eine lebhafte, aber überschaubare Stadt mit Urlaubsflair sein. An den Samstagen jedoch, wenn die meisten Kreuzfahrtschiffe anlegen, um die Passagiere auszuwechseln, gleicht die Hafenzone der Landung der Alliierten in der Normandie – behaupten die ganz alten Semester, die sich noch daran erinnern können.
Ich bin zu jung, um das zu bestätigen. Mich erinnerte das Gelände an Berlin nach dem Mauerfall, als eine Million Ostberliner und zwei Millionen Westberliner gegeneinander andrängten, um auf die andere Seite zu gelangen. Den Berlinern in jenem legendären November 1989 schossen die Tränen aus den Augen, uns hier in Genua perlte der Schweiß von der Stirn. Wohin? stand jedem angekarrten Passagier in den Blick geschrieben, sobald ihn das Taxi oder ein Bus in die wabernde Masse entließ.
Unsicher schaute ich einer Herde von Deutsch Sprechenden nach, die sich hinter einer blau uniformierten Hostess mit Schild (MS Splendida) durch die Menge wälzte. Der Geräuschpegel erschlug mich. Wie hielten die anderen das aus? Viele waren älter als ich, erheblich älter, wahrhaft steinalt. Wahrscheinlich waren sie schon vorher taub gewesen, die Glücklichen. Endlich sichtete ich eine Hostess mit dem Täfelchen »MS Fortuna « . Ich dockte bei ihr an, ich wähnte mich gerettet.
Die Schilder über dem wallenden Menschenmeer erinnerten an die Osterprozessionen in Andalusien, wo Monstranzen über den Häuptern der Gläubigen durch die Straßen getragen werden. Tiefgläubige Christen findet man heutzutage nur noch selten. Aber die neuen Wallfahrten zu den sakralen Stätten der Freizeitgesellschaft, den Luxuslinern, verzeichnen jährlich
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