Trinken hilft
Vergnügen ein gnadenloses Diktat. Aber auch die jüngeren Gäste stehen unter Konsumdruck. Erschöpft vom freien Wettbewerb auf dem globalen Markt, quetschen sie sich eine Urlaubswoche aus den Rippen und erwarten dafür das volle Programm, kompromisslos. Und dieses Programm will durchgestanden sein. Ganz abgesehen von den Landgängen konkurriert eine Unzahl von Angeboten an Bord um die Aufmerksamkeit der Lebenshungrigen: Fitnesscenter mit qualifizierten Trainern, Gymnastikkurse, Yoga, Tanzkurse (Tango und Flamenco), ein Jogging-Parcours im Freien, ein Outdoor-Sportplatz für Basketball, Volleyball und Tennis, Swimmingpools, Saunen, eine Wellness-Area, Theater, Kino, Bibliothek, Vorträge, Spielcasino, Gottesdienst in der Schiffskapelle, Beautysalons, Einkaufsarkaden, Mini-Club (das erklärt, warum man nirgends Kinder zu Gesicht bekam, sie werden ganztags im Kinderhort geparkt), Teenie-Club, ein Medizinisches Zentrum, in dem auch Schönheitskorrekturen (Absaugen und Botox) durchgeführt werden. Abends natürlich Diskothek mit DJ Tom Reggiani aus Jamaika, aber auch Livemusik in den verschiedenen Bars, täglich wechselnde Themenfeste, Kabarett, Schwertschlucker, Akrobaten, Zauberer, Quizmaster, Kapitänsempfang zu Beginn und Gala-Dinner am letzten Abend. Und dazwischen kann man vom Frühaufsteher-Frühstück ab 6 Uhr bis zum Mitternachtsbüfett quasi durchgehend schlemmen.
Die Büfetts sind mehr als eine Erwähnung wert. Sie ersetzen ein Bachelorstudium in Soziologie. Wenn ich noch beim Einschiffen an einer gesamteuropäischen Mentalität gezweifelt haben sollte – beim Ansturm auf die Büfetts offenbarte sie sich mir. Da gab es kein Zaudern. Keine umständlichen Diskussionen. Körpermasse und Größe waren von Vorteil, das Gesetz des Dschungels ergriff von allen Passagieren Besitz, egal, aus welcher Weltecke sie stammen mochten. Wir waren alle aus demselben Holz geschnitzt, hartem Holz, das im Kampf um Licht und Wasser eher bricht als nachgibt.
Keine Bange! Verhungern kann man auf einem Luxusliner nicht. Aber wenn man die Rosinen im Kuchen ergattern will, das heißt die hochwertigsten Proteine und die exotischsten Früchte, also alles, was zu Hause auf den Märkten sauteuer ist und höchstens an Festtagen in den Einkaufskorb wandert, Hummer, Langusten, Rentierschinken et cetera, wenn man sich davon den Teller wirklich vollknallen möchte, sollte man daheim im Vormittags-TV ein paar Fernkurslektionen in Kampfsport mitgemacht haben. Es hilft, ich rate es jedem. Die alten Hasen der Kreuzfahrerei, und mögen sie noch so gebrechlich wirken, am Büfett erkennt man sie. Und auf den Sonnendecks.
Als ich am ersten Vormittag nach einem ausgiebigen Frühstück auf eines der Sonnendecks zuschlenderte, musste ich erkennen, dass schon alle Sonnenhungrigen vor mir da waren und die Liegen okkupiert hatten. Zwar verfügte meine Kabine über einen eigenen Balkon, aber meiner lag steuerbords wie die Hälfte aller Balkone, also bei Kurs nach Westen auf der Nordseite dieser schwimmenden Hochzeitstorte, eine zugige, schattige Loggia und zudem einsam. Der Einsamkeit zu entfliehen war der Grund meiner Reise, nach einer Nacht allein in meinem höhenverstellbaren Bett mit Massagesimulator erst recht. Andere, auch Paare, hatten offenbar denselben Drang, wie mir der Run auf die Sonnendecks fortan bewies.
Ein freundlicher alter Herr aus Leverkusen – im Gemetzel des Einschiffens hätte mich sein Gehstock beinahe zu Fall gebracht, wofür er sich entschuldigte –, dieser klapprige Alte unter seinem Strohhut fläzte sich bereits in Toplage auf seinem Deckchair. Wie hat er das bloß geschafft?, wunderte ich mich. Seine madenweißen knochigen Beine sahen nicht so aus, als seien sie wettkampffähig. Vermutlich war es nicht seine erste Kreuzfahrt, spekulierte ich. Alles Erfahrungssache. Wahrscheinlich musste man hier warten, bis jemand mal muss, um einen freien Platz zu ergattern.
Ich lehnte mich deshalb lässig lauernd an die Reling, die Augen habichtgleich auf das Territorium gerichtet, auf dem ich meine Ansprüche geltend machen wollte. Als sich endlich ein fescher Franzose aufraffte, um sein leeres Bierglas an der Bar gegen ein volles einzutauschen (was gar nicht nötig gewesen wäre; ein Wink zum Steward hätte genügt), jedenfalls als er seinen Platz verließ, stürzte eine Handvoll Lauernder auf seine Liege zu, aber ich war schneller. Ich gebe zu, ich hatte seinen zügig sich senkenden Bierpegel schon eine Weile im Visier, worauf ich
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