Trinken hilft
kann. Konnte ich denn sicher sein, dass man mich noch rechtzeitig fände? Nein, es musste andere Möglichkeiten geben, um einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft zu bekommen. Verrückt werden, paranoid, war ich das nicht schon? Vielleicht gepaart mit einer soliden Alkoholsucht, das müsste doch reichen, oder?
Gleich bestellte ich mir noch einen doppelten Cognac, und noch einen, um das Krankheitsbild zügig aufzubauen. So leicht ist das nicht, manche brauchen Jahre dafür, aber ich wollte mich nicht demotivieren, denn ich weiß: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Also ließ ich mir noch ein paar Gläser zum Absacken servieren, wie es sich gehört für einen ausgewiesenen Alkoholiker, und erst als der Wirt anfing, die Stühle auf die Tische zu stellen, wurde mir klar, dass ich die letzte S-Bahn versäumt hatte. Ein Taxi musste kommen.
»In die Stadt wollen S’ zurück«, wiederholte die Taxifahrerin mein Anliegen, als hätte sie es mit einem echten Trunkenbold zu tun, »Sie, des kostet Sie einen Batzen Geld, 30 Kilometer plus Nachtzuschlag, haben S’ überhaupt noch so viel dabei?«
Ich kramte meine restlichen Scheine zusammen und gab sie ihr. Es reichte, und sie fuhr los, über stille Landstraßen und durch schlafende Wohnsiedlungen. Auch mir war nach Schlafen, dumpf vom Cognac kauerte ich auf der Rückbank und ließ mich durch die Dunkelheit gleiten. Plötzlich spürte ich eine leichte Bewegung auf der Stirn. Vielleicht eine Fussel, die von oben auf mich heruntergesunken war. Mit einer reflexartigen Handbewegung wollte ich sie wegwischen, da fühlte ich, dass sich die Fussel bewegte, dass sie mir auf die Nase krabbelte. Ein Schrei aus meiner Kehle zerriss das monotone Motorbrummen, die Fahrerin bremste abrupt, und ich wurde gegen die Vorderlehne geschleudert.
»Was haben S’ denn?« Bestürzt drehte sie sich zu mir um, während ich weiter schrie, um mein Leben schrie. Denn die krabbelnde Fussel war ihrerseits von meiner Nase geschleudert worden, direkt unter meinen Hemdkragen, und nun spürte ich sie auf der blanken Haut über das Schlüsselbein in Richtung Untergeschoss krabbeln. Meine Hände gegen die Brust gepresst, um den Eindringling aufzuhalten, und gleichzeitig wie ein Gestochener kreischend, mochte ich den Eindruck vermitteln, ich erlitte einen Herzinfarkt. Die gute Frau versuchte, mich zu beruhigen, meine Beine auf die Sitzbank zu heben und mich in stabile Seitenlage zu hieven. Aber das Letzte, was ich brauchen konnte, war Ruhe und wehrlose Gemeinschaft mit einem Objekt, von dem ich nur ahnte, um welche Spezies es sich handelte. Ich musste raus aus diesem Käfig, aus dieser Falle! Mein Fluchtinstinkt hatte die Wucht einer Eruption, er katapultierte mich aus dem Wagen, und schon lag ich im Straßengraben wie ein hingestrecktes Wild.
Soll ich ehrlich sein? Ich machte keine gute Figur. Wenn ein ausgewachsener Mann mit beginnendem Bauchansatz weinend um sich schlägt wie ein Trotzkopf, der ins Bett soll, dann kann er sich die Damenwahl abschminken. Frauen mögen zwar Kinder, aber keine mit Schnapsfahne und schütter werdenden Haaren. Thea war eine Ausnahme. Oder sind alle Taxifahrerinnen so? Couragiert und einfühlsam und mütterlich, als ob ihnen nichts Menschliches fremd sei. Jedenfalls brachte sie mich nach Hause. Sogar ins Bett, nicht ohne vorher die Wohnung bis unter die Spüle und hinter die Fugen nach Achtbeinern abgesucht zu haben. Sie nahm meine Panik ernst, hatte aber selbst keine Angst vor Spinnen. Die Fussel unter meinem Hemd entpuppte sich übrigens als Motte. Ich will nicht behaupten, dass ich bei dieser Feststellung aufatmete, denn auch eine Motte ist ein Insekt und somit zutiefst verabscheuenswert. Aber natürlich war ich froh, nicht mit einer Spinne Hautkontakt gehabt zu haben. So blieb mir eine Hauttransplantation erspart.
Das Erlebnis im Taxi war letztlich meine Rettung. Ohne die Motte kein Panikanfall, die Taxifahrerin hätte diesen Suffkopf vor seiner Haustür abgesetzt, und das wär’s gewesen. Keine Thea, keine Heirat, kein Happy End. Eigentlich hatte ich ein Riesenglück. Für einige Jahre. Thea war genau die Frau, nach der ich gesucht hatte. Sie beschützte mich vor meinen Ängsten, vor allem was lebt und krabbelt, sie war wie eine Mutter zu mir. Aber nicht nur Mutter, natürlich nicht. Sie ist ja meine Frau, mit allem, was dazugehört, das ist ihr gutes Recht. Auch ich habe mich gegen den Ansturm gewisser, bislang unbekannter Triebe nicht gewehrt, habe ihnen lustvoll
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