Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)
gehe nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging der Invalide mit Holzbein und Stock laut klackernd vorbei. Ein halbes Dutzend Bengel rannte dem Invaliden hinterher und äffte seinen Gang nach.
Ich bog in meinen Hauseingang ein und stieg die Treppe hoch. Im ersten Stock blieb ich stehen. Ein scheußlicher Gedanke schoss mir durch den Kopf: Die Alte musste ja schon in Verwesung übergehen. Ich hatte die Fenster nicht zugemacht, und bei offenem Fenster sollen Tote ja angeblich schneller verwesen. Wie kann man nur so dusselig sein! Und dieser verfluchte Hausverwalter ist erst morgen wieder am Platz! Ich blieb einige Minuten unschlüssig stehen und stieg dann weiter die Treppe hoch.
Vor meiner Wohnungstür blieb ich wieder stehen. Sollte ich nicht lieber zum Brotladen gehen und dort auf die nette junge Dame warten? Ich könnte sie anflehen, mir für zwei oder drei Nächte Obdach zu gewähren. Aber da fällt mir ein, dass sie heute ja schon Brot gekauft hat und daher nicht mehr zum Brotladen kommen würde. Und überhaupt, es würde sowieso nichts daraus werden.
Ich schloss die Tür auf und trat in den Flur. Am Ende des Flurs brannte Licht, und Marja Wassiljewna hielt einen Lappen in der Hand und rieb ihn an einem anderen Lappen. Als sie mich sah, rief sie:
»Scho ein alter Mann ischt da geweschen und hat nach Ihnen gefragt!«
»Was für ein alter Mann?«, fragte ich.
»Weisch nicht«, antwortete Marja Wassiljewna.
»Wann war das?«, fragte ich.
»Weisch ich auch nicht«, sagte Marja Wassiljewna.
»Haben Sie mit dem alten Mann gesprochen?«, fragte ich Marja Wassiljewna.
»Hab isch«, antwortete Marja Wassiljewna.
»Und wieso wissen Sie dann nicht, wann das war?«, sagte ich.
»Dasch ischt ungefähr tschwei Schtunden her«, sagte Marja Wassiljewna.
»Und wie hat der alte Mann ausgesehen?«, fragte ich.
»Weisch ich auch nicht«, sagte Marja Wassiljewna und verschwand in die Küche.
Ich ging zu meinem Zimmer.
›Vielleicht‹, dachte ich, ›ist die Alte ja auf einmal verschwunden. Ich gehe rein ins Zimmer, und da ist keine Alte mehr. Mein Gott! Gibt es denn wirklich keine Wunder?!‹
Ich sperrte die Tür auf und öffnete sie ganz langsam. Vielleicht kam es mir nur so vor, aber der süßliche Geruch beginnender Verwesung stieg mir in die Nase. Ich spähte durch den Türspalt und erstarrte für einen Augenblick. Die Alte kam mir auf allen vieren entgegengekrochen.
Mit einem Aufschrei knallte ich die Tür zu, drehte den Schlüssel um und sprang von der Tür weg an die Wand gegenüber.
Marja Wassiljewna erschien im Flur. »Haben Schie mich wieder gerufen?«, fragte sie.
Ich zitterte so, dass ich nicht antworten konnte und nur verneinend den Kopf schüttelte. Marja Wassiljewna kam näher. »Schie haben mit jemand geschprochen«, sagte sie.
Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Verrückte Perschon«, sagte Marja Wassiljewna und ging wieder Richtung Küche, wobei sie sich mehrmals nach mir umdrehte.
›Ich darf nicht so stehen bleiben. Ich darf nicht so stehen bleiben‹, wiederholte ich innerlich. Dieser Satz hatte sich irgendwie von selbst in mir gebildet. Ich wiederholte ihn wieder und wieder, bis er in meinem Bewusstsein angekommen war. ›Ja, ich darf so nicht stehen bleiben‹, sagte ich mir, blieb aber wie gelähmt stehen. Es war etwas Schreckliches geschehen, aber ich würde etwas vielleicht noch Schrecklicheres tun müssen als das, was geschehen war. Meine Gedanken kreisten wie in einem Strudel, und ich sah nur die bösen Augen der Alten, die mir langsam auf allen vieren entgegengekrochen kam.
Ins Zimmer stürmen und der Alten den Schädel einschlagen. Das galt es zu tun! Ich sah mich sogar schon suchend um und frohlockte, als mir ein Krocketschläger ins Auge fiel, der weiß Gott wozu seit Jahr und Tag in einer Ecke im Flur herumstand. Diesen Schläger nehmen, ins Zimmer stürmen und zack …!
Es fröstelte mich noch immer. Ich stand da, die Schultern vor innerer Kälte hochgezogen. Meine Gedanken machten Sprünge, gerieten durcheinander, kehrten zum Ausgangspunkt zurück und machten wieder Sprünge, erfassten neue Bereiche, und ich stand da, lauschte meinen Gedanken, stand sozusagen neben ihnen, war sozusagen nicht mehr Herr über sie.
»Verstorbene«, erklärten mir meine Gedanken, »sind ungute Leute. Von wegen Entschlafene! Eher sind es Schlaflose. Man muss höllisch auf sie aufpassen. Sie brauchen ja nur den Wärter irgendeiner Leichenhalle zu fragen. Was glauben Sie denn,
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