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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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Und wenn die Alte aus dem Zimmer hinauskroch?
    Ich stürzte zurück, besann mich jedoch rechtzeitig und ging ruhigen Schrittes durch die Küche, um meine Mitbewohner nicht zu erschrecken. Marja Wassiljewna klopfte mit einem Finger auf den Küchentisch und sagte zum Lokführer: »Scher gut! Dasch ischt schehr gut! Da hätt ich genauscho gepfiffen!«
    Mit angehaltenem Atem trat ich in den Flur, doch dann spurtete ich los zu meinem Zimmer. Von außen war alles ruhig. Ich näherte mich der Tür, öffnete sie einen Spalt und guckte ins Zimmer. Die Alte lag wie zuvor ruhig da, mit dem Gesicht zum Boden. Der Krocketschläger stand an seinem Platz bei der Tür. Ich nahm ihn, ging ins Zimmer hinein und schloss die Tür hinter mir ab. Ja, im Zimmer roch es definitiv nach Leiche. Ich stieg über die Alte hinweg, ging zum Fenster und setzte mich in den Sessel. Hoffentlich würde mir nicht schlecht werden von diesem Geruch, der zwar noch schwach, aber schon jetzt unerträglich war. Ich zündete die Pfeife an. Ich verspürte einen Brechreiz, und ich hatte leichtes Bauchweh.
    Was saß ich hier rum? Ich musste handeln, und zwar schnell, bevor die Alte endgültig verfaulte. Jedenfalls musste ich vorsichtig sein, wenn ich sie in den Koffer legte, denn genau dabei konnte sie nach meinem Finger schnappen. Und dann müsste ich an Leichenvergiftung sterben – nein danke!
    »Ha!«, rief ich plötzlich. »Wüsste gern, gnädige Frau, womit Sie mich eigentlich beißen wollen? Ihre Zähne liegen jedenfalls da drüben!«
    Ich beugte mich im Sessel nach vorn und schaute in die Ecke auf der anderen Seite des Fensters, wo nach meiner Berechnung das Gebiss der Alten liegen musste. Doch die falschen Zähne waren dort nicht. Ich überlegte: Vielleicht war die tote Alte auf der Suche nach ihren Zähnen in meinem Zimmer herumgekrochen? Vielleicht hatte sie sie sogar gefunden und sich wieder eingesetzt?
    Ich nahm den Krocketschläger und stocherte damit in der Ecke herum. Nein, das Gebiss war weg. Da nahm ich ein Flanellbettlaken aus der Kommode und ging auf die Alte zu. Den Krocketschläger behielt ich in der rechten Hand, bereit zum Zuschlagen, und in der linken hatte ich das Laken.
    Ekel und Angst flößte mir diese tote Alte ein. Ich hob mit dem Schläger ihren Kopf etwas an: Der Mund stand offen, die Augen waren nach oben verdreht, und übers ganze Kinn, da, wo ich sie mit dem Stiefel getreten hatte, hatte sich ein großer dunkler Fleck ausgebreitet. Ich sah der Alten in den Mund. Nein, sie hatte ihr Gebiss nicht gefunden. Ich ließ den Kopf los. Der Kopf fiel runter und knallte auf den Fußboden.
    Da breitete ich das Flanellbettlaken auf dem Fußboden aus und zog es ganz nah an die Alte heran. Dann drehte ich die Alte mit dem Fuß und dem Krocketschläger über die linke Seite auf den Rücken. Nun lag sie auf dem Bettlaken. Die Beine der Alten waren in den Knien angewinkelt, die Fäuste gegen die Schultern gepresst. So auf dem Rücken liegend, sah die Alte aus wie eine Katze, die sich vor einem angreifenden Adler verteidigt. Höchste Zeit, dass dieses Aas verschwindet! Ich schlug die Alte in das dicke Laken ein und hob sie auf. Sie war leichter als ich gedacht hatte. Ich legte sie in den Koffer und versuchte den Deckel zu schließen. Dabei hatte ich alle möglichen Schwierigkeiten erwartet, doch der Deckel ging relativ leicht zu. Ich ließ die Kofferschlösser zuschnappen und richtete mich auf.
    Der Koffer stand vor mir und machte einen ganz untadeligen Eindruck, so als ob Wäsche und Bücher darin wären. Ich nahm ihn am Griff und versuchte ihn anzuheben. Ja, er war natürlich schwer, aber nicht übermäßig, ich konnte ihn bestimmt bis zur Straßenbahn tragen. Ich sah auf die Uhr: zwanzig nach fünf. Sehr gut. Ich setzte mich in den Sessel, um einen Moment zu verschnaufen und eine Pfeife zu rauchen. Offenbar waren die Bockwürste, die ich heute gegessen hatte, nicht mehr ganz frisch gewesen, denn das Bauchweh wurde immer stärker. Vielleicht, weil ich sie ungekocht gegessen hatte? Vielleicht war das Bauchweh auch rein nervlich bedingt.
    Ich saß da und rauchte. Eine Minute nach der andern verstrich.
    Die Frühlingssonne wirft ihre hellen Strahlen ins Fenster, und ich muss blinzeln. Jetzt verschwindet sie hinterm Schornstein des Hauses gegenüber, und der Schatten des Schornsteins huscht übers Dach, fliegt über die Straße und legt sich auf mein Gesicht. Ich erinnere mich, wie ich gestern zur selben Zeit dagesessen und an einer Geschichte

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