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Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition)

Titel: Trinken Sie Essig, meine Herren: Werksausgabe Band 1, Prosa (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniil Charms
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warum der da steht? Nur zu einem einzigen Zweck: Um aufzupassen, dass die Verstorbenen nicht überall herumkriechen. Da sind schon die komischsten Sachen vorgekommen. Einmal, während sich ein Wärter auf Anweisung von oben im Dampfbad wusch, kroch ein Verstorbener aus der Leichenhalle in die Desinfektionskammer und fraß dort einen Haufen Wäsche. Die Desinfektoren verdroschen besagten Verstorbenen zwar ordentlich, aber die verhunzte Wäsche mussten sie aus eigener Tasche bezahlen. Ein anderer Verstorbener kroch in eine Entbindungsstation und jagte den werdenden Müttern einen solchen Schreck ein, dass eine von ihnen eine Frühgeburt hatte. Der Verstorbene aber stürzte sich auf die Leibesfrucht und begann sie laut schmatzend zu verschlingen. Und als eine mutige Schwester dem Verstorbenen einen Schemel auf den Rücken haute, da biss er ihr ins Bein, und sie starb bald darauf an Leichengift. Ja, Verstorbene, das sind ungute Leute. Vor denen muss man sich in Acht nehmen.« »Stopp!«, sagte ich zu meinen eigenen Gedanken. »Ihr redet Unsinn. Verstorbene bewegen sich nicht.«
    »Na gut«, sagten meine eigenen Gedanken zu mir, »dann geh in dein Zimmer, wo sich, wie du sagst, eine Verstorbene befindet, die sich nicht bewegen kann.« Eine unerwartete Trotzreaktion regte sich bei mir. »Genau das tu ich auch!«, sagte ich entschlossen zu meinen eigenen Gedanken.
    »Na dann versuch’s doch einfach!«, sagten meine eigenen Gedanken spöttisch zu mir. Dieser Spott machte mich endgültig wütend. Ich griff mir den Krocketschläger und stürzte zur Tür.
    »Warte!«, riefen meine eigenen Gedanken mir zu. Doch ich hatte den Schlüssel bereits umgedreht und die Tür weit geöffnet.
    Die Alte lag an der Schwelle, mit dem Gesicht nach unten. Ich stand da, den Krocketschläger im Anschlag. Die Alte rührte sich nicht.
    Das Zittern war weg, und meine Gedanken flossen wieder klar und deutlich. Ich war wieder ihr Herr. »Als Erstes Tür schließen!«, gab ich mir selbst das Kommando.
    Ich zog den Schlüssel außen ab und steckte ihn innen wieder hinein. Das tat ich mit der linken Hand, in der rechten hielt ich den Krocketschläger und ließ die ganze Zeit die Alte nicht aus den Augen. Ich sperrte die Tür ab, stieg vorsichtig über die Alte hinweg und trat in die Mitte des Zimmers. »Und jetzt rechnen wir beide ab«, sagte ich. Ein Plan war mir in den Sinn gekommen, wie ihn normalerweise der Mörder in einem Kriminalroman oder in einer Zeitungsreportage ausheckt; ich wollte einfach die Alte in einem Koffer verstecken, aus der Stadt hinausschaffen und im Sumpf versenken. Ich kannte da so ein Plätzchen.
    Der Koffer lag unter meiner Couch. Ich zog ihn hervor und machte ihn auf. Darin fanden sich allerlei Sachen: einige Bücher, ein alter Filzhut und zerschlissene Wäsche. Ich legte alles auf die Couch.
    In dem Moment knallte laut die Wohnungstür zu, und mir schien, als sei die Alte zusammengezuckt. Augenblicklich sprang ich auf und griff mir den Krocketschläger.
    Die Alte liegt still da. Ich stehe und lausche. Das ist der Lokführer, der nach Hause gekommen ist, ich höre ihn in seinem Zimmer umhergehen. Jetzt geht er durch den Flur in die Küche. Wenn Marja Wassiljewna ihm von meinem irren Benehmen erzählt, dann ist das nicht gut. Verflixt nochmal! Ich muss in die Küche gehen und sie durch meinen Anblick beruhigen.
    Noch einmal stieg ich über die Alte hinweg, lehnte den Schläger gleich neben die Tür, damit ich ihn mir, wenn ich zurückkomme, noch vor dem Betreten meines Zimmers wieder nehmen konnte, und ging auf den Flur. Aus der Küche drangen Stimmen herüber, doch die Worte waren nicht zu verstehen. Ich zog meine Zimmertür hinter mir zu und ging vorsichtig Richtung Küche; ich wollte herausfinden, worüber Marja Wassiljewna und der Lokführer sprachen. Ich lief schnell den Flur entlang, und kurz vor der Küche verlangsamte ich meine Schritte. Der Lokführer sprach, offenbar redete er über etwas, das ihm auf der Arbeit passiert war. Ich trat ein. Der Lokführer stand da mit einem Handtuch in der Hand und sprach, Marja Wassiljewna saß auf einem Schemel und hörte zu. Als der Lokführer mich sah, winkte er mir zu.
    »Grüß Sie, grüß Sie, Matwej Filippowitsch«, sagte ich zu ihm und ging weiter ins Badezimmer. Noch war alles ruhig. Marja Wassiljewna war meine Marotten gewohnt, und diesen letzten Vorfall hatte sie womöglich schon vergessen. Plötzlich fiel mir siedend heiß ein, dass ich die Tür nicht abgeschlossen hatte.

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